»Einmischung erwünscht«

Vor hundert Jahren wurde Heinrich Böll geboren

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 7 Min.

Eines Tages würde er Schriftsteller werden. Er wusste es früh. Mit achtzehn schrieb er Anfang 1936 sein erstes Gedicht. Doch der Krieg machte bald alle Pläne erst einmal zunichte. Heinrich Böll tauschte den Hörsaal gegen den Schützengraben. Zuerst war noch Begeisterung im Spiel, die diffuse Hoffnung auf ein Abenteuer, aber die legte sich schnell. In den erhaltenen Kriegstagebüchern der Jahre 1943 bis 1945, die Sohn René in diesem Herbst bei Kiepenheuer & Witsch im Faksimile ediert und kommentiert hat, entlädt sich der Schock in jagenden Sätzen, grellen, atemlosen Beschwörungen, Hilferufen.

»Kälte, Elend, Einsamkeit«, heißt es im November 1943. Tage später: »Gott helfe mir.« Dann wieder: »Gott möge uns allen helfen.« Seite für Seite der ganze Jammer. Immer wieder schrie Böll seine Not heraus, seine Ohnmacht, die Sehnsucht nach Annemarie (die er noch im Krieg geheiratet hat). Dabei hatte er Glück: Er musste nicht an die vorderste Front, musste auch nicht töten. Er erlebte Trommelfeuer und Stumpfsinn, überbrachte Befehle, zog Stacheldraht, grub sich ein, spielte Karten, kämpfte gegen Läuse und fand, wie er in einem Brief bekannte, »dass dieses, der Krieg, nicht unser Leben ist«. Zuletzt, kurz vor der Entlassung aus der Gefangenschaft, schrieb er: »Oft verstehe ich jetzt, daß man an Gottes Existenz zweifeln kann oder muß … aber Gott lebt …« Dahinter dann dreimal das Wort »Barmherzigkeit«.

Buchkunst

In Kleinstauflage erschien vor 20 Jahren eine handgedruckte Ausgabe der Böll-Erzählung »Der Wegwerfer« (1957), illustriert mit eindrucksvollen Filmschabzeichnungen des Schweizer Künstlers Hannes Binder. Böll setzt sich darin belletristisch mit dem Verpackungswahnsinn und einer Flut an Werbepost auseinander, die offenbar seinerzeit schon immens war. Nun hat der Verlag Officina Ludi dieses Buchkunstwerk, dem die Abbildung unten entnommen ist, als Faksimile neu herausgebracht (32 S., geb., 14,95 €). Einer auf 125 nummerierte Exemplare limitierten Vorzugsausgabe liegt Binders hier zu sehendes Böll-Porträt bei. Abb. (2): Officina Ludi

Der Schriftsteller Heinrich Böll ist ohne diese Jahre, den Krieg und seine Folgen, nicht denkbar. Kaum wieder in Köln, der Stadt der Trümmer, des Hungers, der Tristesse, saß er in seiner winzigen Mansarde auf der Bettkante und verwandelte die Bilder in seinem Kopf in Kurzgeschichten. Er schrieb wie entfesselt, pilgerte von Verlag zu Verlag, handelte sich eine Absage nach der anderen ein und antwortete 1949 einem Zeitungsmann auf die Frage, warum er denn partout mit zerknautschten Manuskripten herumlaufe: »Ich habe keine andere Wahl.«

Das Wort galt ein Leben lang. Er hatte tatsächlich keine andere Wahl. Er musste erzählen, was der Krieg und was die Verhältnisse danach aus den Menschen gemacht hatten. Er erzählte ihr Leiden, ihr karges Glück, ihre Sprachlosigkeit, entwarf Figuren, die, müde und erschöpft, das Gleichgewicht verlieren, auf der Strecke bleiben, die sich nicht zurechtfinden in der bald schon glitzernden Welt der Wirtschaftswunder-Jahre. Noch war er frei, von keiner Erwartungshaltung gedrückt, doch zum Erfolg kam bald schon ein vernehmbares Murren, erst leise, dann immer hörbarer. Man war ja inzwischen aus dem Gröbsten raus, strebte mit Fleiß ins Helle, und er steckte mit seinen Geschichten noch immer im Elend des Krieges oder befasste sich mit der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit der Überlebenden. Sein eigentliches Gebiet, klagte Böll im Oktober 1948 resigniert einem Freund, sei ja »der Krieg mit allen Nebenerscheinungen und keine Sau will etwas vom Krieg lesen oder hören und ohne jedes Echo zu arbeiten, das macht dich verrückt«.

Fünfzehn Jahre später, 1963, wurde aus dem Murren lauter, bissiger Protest. Böll, seit seinem Roman »Haus ohne Hüter« (1954) ein Bestsellerautor, hatte in den »Ansichten eines Clowns« von einem jungen Mann aus reichem Haus erzählt, der Raffgier und Heuchelei nicht erträgt, lieber ein ehrlicher Clown sein will und zuletzt als Bettler auf der Bonner Bahnhofstreppe landet. Katholische Verbände, Organisationen und Journalisten schlugen Alarm, weil der Autor in den Mittelpunkt ein unverheiratetes Paar gestellt hatte und kein gutes Haar am offiziellen Christentum ließ. Eingeschüchterte Buchhändler wagten es damals nicht, den Roman offen anzubieten. Es war das erste Mal, dass sich Böll mit derart militanter Feindseligkeit konfrontiert sah.

Im Westen empörte sich die katholische Kirche, die DDR rächte sich für die zweieinhalb Seiten einer Erfurt-Episode, in der Hans Schnier, der Clown, mit seiner Marie auf »irgendwelche Kulturfritzen« der Stadt trifft, die ihn nach siebenstündigem Aufenthalt und borniertem Widerspruch regelrecht vertreiben: »wir hatten es mit allen verdorben: mit den Theologen und mit den Funktionären«. Seit 1956, als Rütten & Loening Bölls Roman »Wo warst du, Adam?« publiziert hatte, war beinah das komplette Frühwerk in der DDR erschienen, die »Ansichten eines Clowns« waren das erste Buch, das nicht gedruckt wurde. Es war nicht das einzige, das auf der Strecke blieb.

Seitdem gab es einen »guten Böll« und einen, den man totschwieg oder von dem man sich polemisch distanzierte. Die Leser kümmerte es wenig. Sie mochten diesen eindringlichen Erzähler und streitbaren Kämpfer, der auch als Nobelpreisträger blieb, was er immer gewesen ist: ein prominenter Autor, der nichts Besonderes sein wollte. Der sein Herz nicht verbarg. Der Bedürftigen Geld zusteckte. Der nach Wilhelmshorst fuhr, um dem in der DDR drangsalierten und bespitzelten Peter Huchel finanziell unter die Arme zu greifen (was nicht gelang, weil ihm die Summe bei der Grenzkontrolle abgenommen wurde). Der Biermann und Solschenizyn Schutz bot, sich an Sitzblockaden beteiligte und zu Demonstranten sprach. Der Unrecht Unrecht nannte, wo immer es geschah, ob in Ost oder West. »Wenn einer«, sagt Christa Wolf, »sind Sie es gewesen, lieber Heinrich Böll, der sein Leben daran gewendet hat, Humanität im Alltag der Deutschen zu befestigen.«

Er war, wie man in Ralf Schnells fundiertem Buch »Heinrich Böll und die Deutschen« nachlesen kann, kein Freund der DDR. Aber die Leser im Osten haben ihn geliebt. Er war nicht nur der Repräsentant jener westdeutschen Literatur, die es zu Weltgeltung gebracht hatte, sondern jemand, dem man Glauben und Vertrauen schenken konnte, und niemand legte sich ins Zeug, um nachzuweisen, dass er bloß ein nachlässiger, immer schwächer werdender Schriftsteller war. Er hat die Verrisse, die nörgelnden, hämischen, boshaften Besichtigungen seiner späteren Romane in manchen Blättern der Bundesrepublik noch selber lesen können (oder müssen). Die tonangebenden, beharrlich-rechthaberischen Rezensionen schrieb Marcel Reich-Ranicki, der überdies bei jeder Gelegenheit suggerierte, dass »das Werk Bölls zum großen Teil vergessen« ist. Ralf Schnell hat ihm und der Kritik in seiner Studie ein ganzes Kapitel gewidmet.

»Einmischung erwünscht«: Schon der Titel eines Essays von 1973 formulierte, in welcher Rolle Böll sich sah. »Einmischung«, erklärte er, »ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.« Er beließ es nicht beim Behaupten. Solidarisch mit allen Gefährdeten, den Schwachen, den Opfern von Verfolgung, Gewalt und Terror, getrieben nur vom eigenen Gewissen, lebte er den Widerstand: als Erzähler, als Essayist, als Redner, als Präsident des Internationalen PEN (von 1971 bis 1974). Er stand auf gegen die Nazis, die bald wieder in ihren Ämtern saßen, die Verdrängungen der Adenauer-Ära, gegen Notstandsgesetze und Radikalenerlass, beschwor in einer großen Rede die Gegenwärtigkeit Georg Büchners, schrieb über Karl Marx, Solschenizyn und die soziale Lage der Schriftsteller in der Bundesrepublik. Ermunterte Bürgerinitiativen, tschechoslowakische Demokraten und sowjetische Dissidenten, intervenierte und half, wo immer er konnte. Sein Biograf Christian Linder nennt ihn zu Recht einen »Einzelkämpfer von historischem Format«.

Das Beste, Bleibende entstand früh. Später, von den Verhältnissen zunehmend genervt, ausgelaugt, überfordert von Verpflichtungen und Ansprüchen, den eigenen und fremden, verdächtigt der Sympathie für Terroristen, gezeichnet von den massiven Angriffen auf seine Person, den Unterstellungen und der »üblen Stimmungsmache« vor allem der »Bild«-Zeitung, floh er aufs Land oder, wenn es ging, für Monate nach Irland. Noch sein postum erschienener (und fast einhellig verrissener) Roman »Frauen vor Flußlandschaft«, radikal im kritischen Befund, machte seinen Lesern bewusst, wie wenig er mit der neuen westdeutschen Gesellschaft zu tun haben wollte.

Den toten Heinrich Böll sahen im Juli 1985 nur wenige. Einer von ihnen hat seinen Eindruck später beschrieben. Er hatte auf einen »total erschöpften Menschen« geblickt, einen, der sich restlos verausgabt hatte, nicht nur als Autor.

Heinrich Böll: »Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind«. Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945, hg. von René Böll. 351 S., geb., 22 €. Ralf Schnell: Heinrich Böll und die Deutschen. 237 S., geb., 19 €. Beide im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

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