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Als die Demokratie im Sterben lag
In den Nullerjahren war die Türkei auf dem Weg in eine liberale Gesellschaft. Davon ist nichts mehr übrig. Wie konnte das geschehen?
In anderen Fällen zeigte sich die türkische Justiz weniger großzügig. Ob nun der »Cumhuriyet«-Reporter Ahmet Şık, der Philanthrop Osman Kavala, die Dozentin Nuriye Gülmen, der Linkspolitiker Selahattin Demirtaş oder der Korrespondent der »Welt« Deniz Yücel - sie alle mussten das vergangene Jahr vollständig oder zeitweise in Haft verbringen, nur weil sie der AKP-Regierung ein Dorn im Auge sind. Ihre Verfolgung soll die gesamte Opposition treffen, sie einschüchtern und mundtot machen. Dass dafür Zehntausende hinter Gitter mussten, zeigt auch, dass die türkische Zivilgesellschaft noch existiert und dem AKP-Regime nach wie vor Sorge bereitet. Nichtsdestotrotz kann konstatiert werden: Die Regierung hat in den vergangenen zwölf Monaten beachtliche Geländegewinne für sich verbuchen können.
Das Drama der Türkei am Ende des Jahres 2017 lässt sich auf sehr verschiedene Weise erzählen. Zum Beispiel mit den Worten der Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen, die in ihrem Jahresbericht 2017 schreibt: »326 Medienschaffende weltweit sind zum Jahresende wegen ihrer Tätigkeit in Haft. Knapp die Hälfte von ihnen sitzt in nur fünf Ländern im Gefängnis: in China, der Türkei, Syrien, dem Iran und Vietnam.«
Oder so: Das türkische Justizministerium erklärte im Juli dieses Jahres, dass offiziell 668 Babys und Kinder mit ihren Müttern im Gefängnis sitzen. Das regierungsnahe Revolverblatt »Akşam« war sich daraufhin nicht zu schade, eine Geschichte zu drucken, in der die »kindgerechte Ausstattung« der Haftanstalten gelobt wurde. Eine, die ihr Kind in Haft zur Welt bringen musste, ist die Lehrerin Ayşe Çelik aus Diyarbakır. Sie hatte im Januar 2016 während einer TV-Livesendung angerufen und vor laufenden Kameras gesagt: »Sind Sie sich im Klaren darüber, was im Osten der Türkei passiert? Die Leute kämpfen gegen Hunger und Durst, vor allem die Kinder. Seien Sie bitte sensibel, schweigen Sie nicht.« Dafür wurde Çelik im April 2017 zu mehr als einem Jahr Haft verurteilt.
Apropos Osten der Türkei: Man kann das Drama des Landes selbstverständlich auch erzählen, indem man über den Krieg, der in den überwiegend kurdischen Gebieten tobt, berichtet. Dieser Krieg war im Spätsommer 2015 wieder aufgenommen worden - kurz nachdem die AKP wegen des Einzugs der linken, prokurdischen HDP ins Parlament erstmals seit der Regierungsübernahme 2002 ihre absolute Mehrheit einbüßte. Die zum UNESCO-Kulturerbe zählende Altstadt von Diyarbakır wurde seither fast vollständig zerstört, etliche Städte abgeriegelt, Hunderte Soldaten, PKK-Kämpfer und Zivilisten fielen den Kampfhandlungen zum Opfer.
Man kann auch von im Gefängnis sitzenden Parlamentsabgeordneten erzählen, von wachsender Arbeitslosigkeit und explodierender Inflation, von katastrophalen Arbeitsbedingungen, vom Erstarken des islamischen Fundamentalismus - und natürlich von dem seit Juli 2016 herrschenden Ausnahmezustand, der demokratische Grundrechte aushebelt.
Wer aber der vor allem im Westen geläufigen Erzählung folgt, »die Türken« hätten sich nun einmal für den Weg in die Diktatur entschieden, der vermeidet eine seriöse Antwort auf die Frage, was denn die Ursache dieses Wandels hin zur Diktatur ist - wie sich die in den Nullerjahren äußerst liberale Türkei in atemberaubendem Tempo so sehr verändern konnte und was die Quelle der unglaublichen Energie ist, mit der die AKP den Staatsumbau vorantreibt. Das irrational und willkürlich erscheinende Agieren der Regierung ist dabei, anders als genanntes Narrativ nahelegt, auch und vor allem Reaktion auf etwas, das in den letzten Jahren eine wahre Blüte erlebte: die demokratisch orientierte Zivilgesellschaft. Und die Ironie der Geschichte ist, dass es ausgerechnet die ersten Jahre der AKP-Regentschaft waren, die diese demokratische Öffnung - gegen die nun so unerbittlich gekämpft wird - zunächst ermöglichten.
Erinnern wir uns kurz: Als die damals noch junge AKP 2002 erstmals an die Macht gewählt wurde, herrschten in der Türkei politisches Chaos und wirtschaftliche Instabilität. Der schwersten Wirtschaftskrise in der Geschichte des Landes begegnete die neue Regierungspartei, unterstützt vom Internationalen Währungsfonds, mit einem umfangreichen Reformprozess, der unter anderem Privatisierungen im großen Stil vorsah. Zu verkaufen gab es viel, denn der jahrzehntelang dominierende Kemalismus hatte stets auf einen hohen Anteil an Staatseigentum gesetzt.
Das neoliberale Wirtschaftsprogramm der AKP ging auf politischer Ebene mit Demokratisierung einher - und brachte Friedensverhandlungen mit der PKK. Die Zurückdrängung des früheren kemalistischen Machzenttrums, der Armee, durch die Regierung war damals eine Erleichterung sowohl für demokratische, linke als auch islamische Kräfte. Bei ihrem Kurs konnte sich die AKP außerdem auf ausländische Investoren, ein aufstrebendes anatolisches Bürgertum sowie eine wachsende Massenbasis verlassen, die sie mit gezielten Sozialprogrammen und Arbeitsplätzen an sich band. Mit der ökonomischen Entwicklung, die die Türkei vom Krisenland zum G20-Staat machte, ging zudem der Ausbau der kommunalen Dienste einher, was breiten Bevölkerungsschichten im täglichen Leben Erleichterungen verschaffte. Kurz: Von dem Wirtschaftsboom, den das Land in den Nullerjahren erlebte, profitierten viele - und dankten es der AKP mit ihrer Unterstützung.
Dies änderte sich um 2010 herum - zunächst langsam. Erstmalig seit den eingeleiteten Wirtschaftsreformen stockte das Wachstum. Und es kam zu Massenprotesten gegen eines der letzten großen Privatisierungsprojekte, den Verkauf des staatlichen Tabakherstellers Tekel. Wochenlang zelteten 2010 mehrere hundert Tekel-Arbeiter in der Innenstadt von Ankara, um gegen die Privatisierung und bald auch gegen die AKP zu protestieren. Am darauffolgenden 1. Mai demonstrierten 300 000 Menschen auf dem Istanbuler Taksimplatz, es war das erste Mal seit 33 Jahren, dass die Gewerkschaften eine Kundgebung dort durchsetzen konnten. Was folgte war ein Aufschwung sozialer Bewegungen, gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen - und damit einhergehend wuchsen die Spannungen zwischen dem damals noch als Ministerpräsidenten fungierenden Erdoğan und seiner Basis. Hinzu kam, dass dessen Traum eines neoosmanischen Projekts mit dem sich verkomplizierenden Syrien-Krieg in weite Ferne rückte, was den Druck erhöhte, innenpolitisch Stärke zu beweisen.
Und dann der Sommer 2013: Gezi. Wochenlang gingen Hunderttausende Tag und Nacht landauf, landab auf die Straßen und demonstrierten gegen die AKP-Regierung. Was mit dem Kampf um ein schäbiges kleines Stückchen Grünanlage mitten in Istanbul begonnen hatte, wuchs sich in Nullkommanichts zur größten Demokratiebewegung aus, die die Türkei seit 1968 gesehen hatte. Eine überbordende Hoffnung, dass eine andere Türkei möglich sei, war überall zu spüren. Dass viele Menschen diese Möglichkeit der Partizipation so vehement und ausdauernd nutzten, hatte wiederum etwas mit den Erfahrungen unter der Militärdiktatur zu tun, während derer jede freie Meinungsäußerung brutal unterdrückt worden war. Wer heute aus Westeuropa auf die Türkei schaut und findet, »so schlimm sei es ja noch nie gewesen«, irrt gewaltig: Das Regime von General Kenan Evren, das nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 die Geschicke des Landes lenkte, regierte mit äußerst harter Hand. Zehntausende kamen ins Gefängnis, die Todesstrafe wurde mehrfach vollstreckt, Folter erwiesenermaßen angewandt, Gewerkschaften verboten.
Deniz Yücel hat den Zusammenhang aus Diktaturerfahrung und Demokratiebewegung in seinem Buch über die Gezi-Park-Bewegung »Taksim ist überall« pointiert dargestellt. Dort kommt beispielsweise Onur zu Wort, Fußballfan und Aktivist. Yücel schreibt: »Onur und seine Freunde gehörten zu den (...) Leuten, die als erste zur Unterstützung der Parkbesetzer kamen. Als die Proteste losgehen, ruft sein Vater an und meint: ›Das bringt nichts, wir haben uns jahrelang mit Politik beschäftigt und nichts erreicht.‹ ›Ich bin auf den Barrikaden, weil ihr keinen Erfolg hattet‹, erwidert der Sohn. ›Und ich hoffe, dass meine Kinder nicht auch auf die Barrikaden steigen müssen.‹ Er legt wütend auf. Dann meldet sich der Vater wieder und sagt: ›Ich bin besorgt. Aber ich bin stolz auf dich. Macht, was wir nicht geschafft haben - macht aus diesem Land eine echte Demokratie!‹«
Die Fixierung auf den Putschversuch vom 15. Juli 2016 als »Wendepunkt« der jüngeren türkischen Geschichte ist somit wenig zutreffend. Ein entscheidendes Jahr war 2017 dennoch und vor allem dahingehend, dass die demokratischen Institutionen, die zuvor Erdoğans Amibitionen bezüglich der Einführung eines auf ihn zugeschnittenen Präsidialsystems stets Grenzen gesetzt hatten, entmachtet wurden - und das lang ersehnte Referendum zum gewünschten Ergebnis führte, allerdings denkbar knapp. Nötig war dafür auch, die »aufgeklärte« Gruppe innerhalb der AKP um Erdoğans Vorgänger und Ziehvater Abdullah Gül und Ahmet Davutoğlu, der bis Mai 2016 Ministerpräsident war, zurückzudrängen. 2017 steigerte sich diese Tendenz zu einer regelrechten Säuberungskampagne innerhalb der AKP.
Ob sich das Präsidialsystem durchsetzt, ist trotz allem immer noch nicht endgültig klar. Erdoğan wird nicht ewig mit dem Ausnahmezustand regieren können und muss die Wahlen 2019 klar gewinnen. Das zu verhindern ist möglich, wenn auch unter den gegebenen Bedingungen schwer vorstellbar. Denn zum Drama der Türkei 2017 gehört auch, dass die größte Oppositionspartei, die CHP, zwar im Sommer einen beeindruckenden Gerechtigkeitsmarsch auf die Beine stellte und Hunderttausende mobilisierte, kurz darauf aber ein Wahlbündnis mit der linken HDP für die Wahlen 2019 ausschloss - aus Rücksicht auf die Nationalisten, die die Partei des Staatsgründers Atatürk nicht verprellen will. Das ist tragisch, denn noch ist die Demokratie in der Türkei nicht tot. Sie liegt jedoch im Sterben.
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