Notenbanken ohne Navi

Während die Weltwirtschaft boomt, nehmen die Unwägbarkeiten auf den Finanzmärkten zu

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 5 Min.

2017 - was für ein Jahr! Das weltweit wohl bekannteste Börsenbarometer, der Dow-Jones-Index, steigt von knapp 20 000 auf zuletzt fast 25 000 Punkte. Der sommerliche G20-Gipfel in Hamburg bringt zur Freude der Finanzindustrie die Weltwirtschaft richtig auf Trab. Die »Paradise Papers« decken erneut auf, wie Großunternehmen und Privatpersonen immense Summen in Steuerparadiesen anlegen. Die Reichsten der Reichen werden eine Billion Dollar reicher. Indiens Geldexperiment - über Nacht wird ein Großteil der Scheine wertlos - bringt die Finanzwirtschaft des Subkontinents ins Straucheln. Und die US-amerikanische Notenbank Fed verdreifacht im Laufe des Jahres ihren Leitzins.

Der US-Kapitalmarkt dominiert als größter seiner Art nach wie vor die Märkte anderer Länder. Deswegen werden auch 2018 die Renditeentwicklung von US-Staatsanleihen oder der Leitzins der Fed wieder eine zen-trale Rolle spielen - selbst in der Eurozone. Doch die Lage der westlichen Führungsmacht gilt Bankanalysten als »fragil«, seit der konservative Rebell Donald Trump am 20. Januar als Präsident vereidigt wurde.

Aktuell sorgen sich Manager und Banker um die Folgen der Steuerreform. Die Körperschaftsteuer für Konzerne sinkt von 35 auf 21 Prozent. Dies dürfte die Steuerkonkurrenz der Staaten anheizen, Multis aus aller Welt über ihre Geschäftspläne neu nachdenken lassen und paradoxe Nebenwirkungen erzielen: So wird die US-Steuerreform europäische Großbanken wie UBS, Credit Suisse oder Deutsche Bank - die ohnehin weniger profitabel als US-Banken sind - Milliarden Dollar kosten, denn sie werden infolge der niedrigeren Steuern weniger von alten Steuergutschriften aus der Krise profitieren.

An Unwägbarkeiten mangelt es auch in anderen Erdteilen nicht. In China droht das Platzen einer Immobilienblase auf dem völlig überteuerten Wohnungsmarkt, viele Industrieunternehmen sind hoch verschuldet, große Banken aus Sicht westlicher Analysten »unterkapitalisiert«, besitzen also zu wenig Eigenkapital, um eine mögliche Krise zu überstehen. Der schwelende Dreier-Konflikt zwischen der aufstrebenden Großmacht, ihren Nachbarn Vietnam und Nordkorea sowie westlich orientierten Staaten wie Südkorea und Japan verunsichert die Akteure auf den Finanzmärkten stärker als die Spätfolgen der missglückten »Arabellion« oder der Rohstoff-Einbruch Brasiliens.

Nicht nur die Fed, sondern auch die Notenbanken Chinas und Südkoreas haben im zurückliegenden Jahr ihren Leitzins angehoben. Die Wende soll unter anderem die Exzesse auf den Finanz- und Kapitalmärkten einhegen. Das billige Geld - praktisch können sich große Spieler frisches Geld fast zum Nulltarif besorgen - hat die Spekulation mit Immobilien oder Aktien angeheizt. Andererseits könnte ein zu schneller Anstieg der Leitzinsen 2018 die gerade hochfahrende Weltwirtschaft jäh bremsen.

Glaubt man dem Internationalen Währungsfonds (IWF), dann wird Europa zur Zugmaschine der Weltwirtschaft. Der Aufschwung habe sich verstärkt und merklich verbreitert, heißt es in der weihnachtlichen IWF-Analyse. Für die Eurozone wird 2018 ein Wachstum von 2,5 Prozent pro-gnostiziert.

Gleichzeitig verschiebt sich die Finanzmacht weiter nach Osten. Indien wird 2018 die alten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich überholen und trotz der sozialen Spaltung des Landes zur fünftgrößten Wirtschaftsmacht aufsteigen, meint das britische Forschungsinstitut CEBR.

Eine Unwägbarkeit bleibt der Brexit und die Frage, wie sich die Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU entwickeln werden. Außerdem schlagen sich Banken vor allem im drittgrößten Euroland Italien mit viel zu vielen maroden Altkrediten herum. Weitere Bankpleiten mit Staatsrettung drohen.

Unwägbar bleiben auch die Auswirkungen des Comebacks der Finanzinvestoren. Sie kauften 2017 so viele deutsche Unternehmen wie nie - das Volumen ist mit rund 20 Milliarden Euro das zweithöchste nach dem Vorkrisenjahr 2007. Zwar ist die Regulierung der Banken vorangekommen, wie im Dezember die Einigung der Aufseher und Notenbanken der wichtigsten Staaten auf eine Reform von »Basel III« zeigte. Doch der weitgehend unregulierte graue Kapitalmarkt weitet sich aus. Schattenbanken gelten selbst im chinesischen Staatskapitalismus heute als Gefahr.

Die US-Investmentbank Goldman Sachs warnt vor überzogener Selbstsicherheit. Die »Große Finanzkrise«, wie sie im Börsenjargon genannt wird, ist nunmehr bald zehn Jahre her. Seitdem hätten sich die Akteure daran gewöhnt, die Notenbanken als Leitplanken zu missbrauchen.

Mag sein. Doch der »finanzmarktgetriebene Kapitalismus« (Jörg Huffschmid) hat gezeigt, dass er selbst größte Krisen unbeschadet übersteht. Diese Beständigkeit hätte den 2009 verstorbenen marxistischen Finanzmarktexperten wohl nicht überrascht. Von Untergangsszenarien, wie sie von manchen Linken geschätzt werden, hielt er nichts.

Und die Weltwirtschaft boomt wie lange nicht. Der Gesamtumsatz der 100 umsatzstärksten börsennotierten Konzerne in Deutschland kletterte in den ersten drei Quartalen im Vorjahresvergleich um knapp sieben Prozent auf 1,25 Billionen Euro, so die Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young. Der Gewinn stieg sogar um 21 Prozent auf knapp 109 Milliarden Euro.

Doch im Untergrund brodelt es. Viele kleinere Länder haben 2017 ihre Leitzinsen entgegen dem Trend der Großen noch gesenkt. Bleibt daher in Europa die lang erwartete Zinswende aus? Viele mächtige Notenbanken erwecken den Eindruck, sie wüssten nicht, wie sie aus dem Zinstief ohne Schaden herauskommen sollen. Schließlich hat sich die Finanzwelt verändert. Immer mehr angehäufter Reichtum und immer größere Kapitalmärkte verzerren das Geschehen, wie es die klassische Ökonomie beschreibt. Eine Folge ist die zunehmende »Volatilität«, also die Schwankungsanfälligkeit der kleinen wie größeren Märkte.

»Notenbanken ohne Navi« überschrieb ein Analyst kürzlich eine Kolumne. Die wirtschaftlichen Strukturen haben sich verändert, die ökonometrischen Modelle, mit denen Wissenschaft, Politik und Wirtschaft arbeiten, sind überaltert. So spucken statistische Vorhersagemodelle seit geraumer Zeit höhere Inflationsraten aus, da die Kapazitäten der Firmen ausgelastet sind und die Nachfrage hoch ist. Die Preise - der wichtigste Indikator im Kapitalismus - müssten eigentlich anziehen. Tun sie aber nicht. Wie vor dem Ausbruch der »Großen Krise« braut sich ein Gewitter zusammen. Nur eine Nummer größer.

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