- Politik
- Islamische Republik in der Krise
Der Protest ist in Irans Politik angekommen
Führung in Teheran verstört, weil Demonstrationen von ländlichen Regionen ausgehen / Warnung von Chamenei
Das iranische Parlament ist kein Ort leidenschaftlicher Debatten. Gesetzesvorlagen werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit von einem komplizierten Geflecht von Ausschüssen und Arbeitsgruppen ausgehandelt; im Plenum beschränkt man sich auf lobende Worte für das System im Allgemeinen und die Vorlage im Besonderen, die, ganz bestimmt, das Leben der Menschen grundsätzlich verändern werde.
Nur: »Wir haben es bis heute nicht geschafft, auch nur eines der Probleme, die unser Volk plagen, zu lösen«, wetterte der Abgeordnete Mohammad Reza Tabesch aus der Provinz Yazd am Montag: »Die alten Männer, die uns regieren, sagen heute, dass die Menschen, die protestieren, Chaoten sind, die nur Zerstörung im Kopf haben. Da muss man doch fragen: Wann waren Sie das letzte Mal auf dem Land, haben sich angeschaut, was die Bevölkerung dort erdulden muss?« Im Saal brach Applaus aus. Das Parlament besteht vollständig aus Wahlkreisabgeordneten, und in vielen dieser Wahlkreise gehen die Menschen derzeit zu Tausenden auf die Straße.
»Die Forderungen der Leute gehen auch an vielen von uns nicht vorbei«, sagt ein Parlamentarier und bittet darum, seinen Namen nicht zu nennen. Der Protest ist auch in der iranischen Politik angekommen. Doch er selbst sei nicht so mutig, wie die Kollegen, die am Montag im Parlament deutliche Worte sprachen. Denn vor einer Kandidatur steht der Wächterrat, eine Behörde, die alle Kandidaten für öffentliche Ämter auf ihre Vereinbarkeit mit den »Werten der islamischen Republik« prüft; feste Kriterien dafür gibt es nicht. Wer also von den üblichen Sprachregelungen abweicht, muss damit rechnen, bei der nächsten Wahl nicht wieder antreten zu dürfen.
Zusammen mit einer Medienlandschaft, die weitgehend den vorgegebenen Sprachregelungen folgt, hat dies dazu geführt, dass es lange Zeit nahezu keine Debatten über Missstände gab, die Entscheidungsträger in der Vielzahl von Behörden und Gremien, die das iranische System bilden, weitgehend ohne Kontakt zur Bevölkerung arbeiten und oft auch an ihr vorbei entscheiden. Lokalen Behörden steht in der Regel nur der Dienstweg offen, der in Iran sehr lang sein kann. Es dauere durchschnittlich acht Monate, bis ein Brief an die Zentralregierung beantwortet werde, sagt Ali Reza Halladsch, stellvertretender Bürgermeister der unter extremer Umweltverschmutzung leidenden Stadt Ahwaz: »Und fast immer steht dann drin, dass man die Sache prüft.«
Dass nun auch die Menschen auf dem Land, in den ärmsten Provinzen auf die Straße gehen, hat in Teheran viele aufgeschreckt. Denn dies sind die Leute, von denen man Protest am Wenigsten erwartet hatte: Sie sind oft extrem konservativ. Zudem war das Internet, die Mediennutzung auf dem flachen Land lange Zeit gering. Doch vor einigen Jahren wurde das Mobilfunknetz auch außerhalb der Städte installiert, verbreiteten sich Handys auch dort.
Und das spielt bei den derzeitigen Protesten eine große Rolle: In Internetforen werden Protesttaktiken entwickelt und verbreitet, die dabei helfen sollen, einer Festnahme zu entgehen. So wird dazu geraten, sich im Netz zu einer kleinen Kundgebung zu verabreden, einen Ort ohne Polizeipräsenz auszukundschaften und sich dort dann kurz und schnell zu versammeln. In einem Forum werden sogar die Reaktionszeiten von Polizei und Revolutionsgarden gesammelt. In anderen Foren werden Nachrichten über die allgemeine Lage verbreitet. Dass das Innenministerium versucht, Teile des Internets zu blockieren, ist dabei kein Hindernis. Software zur Umgehung der Sperren ist zwar illegal, aber frei verfügbar.
Am Montag äußerte sich auch Staatsoberhaupt Ajatollah Ali Chamenei zum ersten Mal; die Demonstranten seien »Aufrührer«, die von »ausländischen Mächten« gesteuert würden - eine Meinung, die in konservativen Kreisen sehr oft vertreten wird. Bestätigt sieht man sich durch die Tweets von US-Präsident Donald Trump; verwiesen wird dabei auch darauf, dass Trump Mitte 2017 einen Großteil der CIA-Dokumente zur Absetzung des iranischen Präsidenten Mohammad Mossadegh 1953 veröffentlichte; In Teheran wurde das als Warnung verstanden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.