Verbinden statt gegeneinander ausspielen

Bernd Riexinger über die Frage, was sozialistische Klassenpolitik für die LINKE heute bedeutet

  • Bernd Riexinger
  • Lesedauer: 8 Min.

Seit der Bundestagswahl hat die Diskussion an Fahrt aufgenommen, welche Milieus, sozialen Gruppen oder Klassen die LINKE anspricht und ansprechen kann. Bereits bei verschiedenen Landtagswahlen gab es einen Trend, der sich in der Bundestagswahl bestätigt hat: Die LINKE gewinnt neue Wähler*innen unter jungen, häufig akademisch Gebildeten in den Großstädten und urbanen Zentren. Der Stimmenzuwachs bei der Bundestagswahl 2017 wäre ohne diese Entwicklung nicht möglich gewesen.

Gleichzeitig sind die Stimmenanteile der LINKEN unter Erwerbslosen und jenen, die sich in Umfragen selbst als Arbeiter bezeichnen, zurückgegangen. Die AfD wiederum konnte bei diesen Gruppen dazugewinnen, in einigen Bundesländern ist sie hier stärkste oder zweitstärkste Partei. Auch bei Gewerkschaftsmitgliedern liegt die AfD überdurchschnittlich. Manche schließen daraus, die LINKE habe »die Arbeiterklasse verloren«. Zustimmend oder ablehnend wird davon gesprochen, sie entwickle sich zu einer modernen Mittelschichts- oder »Hipsterpartei«, die nicht mehr zuerst eine soziale Politik verfolge, sondern für einen weltoffenen, modernen Lebensstil stehe und sich wenig interessiere für die Anliegen der Lohnabhängigen.

Zur Person

Bernd Riexinger, Jahrgang 1955, ist seit 2012 neben Katja Kipping Vorsitzender der Linkspartei. Riexinger arbeitete zunächst als Bankkaufmann, wurde dann Betriebsrat und 1991 Gewerkschaftssekretär, schließlich Geschäftsführer des Bezirks Stuttgart der Gewerkschaft ver.di.  2003 gehörte er zu den Initiatoren von Protesten gegen die von der rot-grünen Bundesregierung initiierte Agenda 2010. Über die WASG, deren Landesvorsitzender in Baden-Württemberg er war, kam er in die LINKE. Seit 2017 ist er Bundestagsabgeordneter.

Bei diesem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels aus der kommenden Ausgabe der Zeitschrift LuXemburg "Marxte noch mal?!".

Foto: dpa/Wolfram Kast

Um es vorwegzunehmen: Ich halte diese Interpretation für falsch. Es ist aber erfreulich, wenn im Zuge solcher Debatten wieder über Klassen und Klassenpolitik diskutiert wird. Das ist nicht selbstverständlich. Es gab Zeiten, in denen eine Orientierung auf die Interessen der Lohnabhängigen von Teilen der LINKEN als unmodern oder langweilig empfunden wurde.

Wer ist die Arbeiterklasse?

Der These, die LINKE habe »die Arbeiterklasse verloren«, liegt ein zu enger Blick zugrunde. Wir sind von 14 Prozent der Gewerkschafterinnen und 11 Prozent der Gewerkschafter gewählt worden. Das bedeutet auch: Mehr Pflegekräfte haben uns gewählt, aber vielleicht weniger Handwerker oder Industriearbeiter (dazu gibt es keine genauen Untersuchungen). Letzteres ist bedauerlich und wir werden uns damit nicht abfinden. Aber Pflegekräfte, Erzieherinnen, Verkäuferinnen oder Beschäftigte bei Amazon sind nicht weniger Teil der Arbeiterklasse als jene in der Industrie oder im Handwerk.

Alle Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und in ihrer Stellung in den Betrieben keine unternehmerische Funktion ausüben, sind Teil der Klasse der Lohnabhängigen oder - klassisch gesprochen - der Arbeiterklasse bzw. der Arbeiter*innenklasse, wie es richtiger heißen müsste. In diesem Sinne hat Marx den Begriff geprägt. Der verengte Blick auf die (männlichen) Werktätigen in der Industrie oder die Unterscheidung zwischen denen, die Werte schaffen, und allen anderen hilft für linke Strategiebildung nicht weiter. Wir brauchen einen weiten Blick, um zu verstehen, dass sich die Arbeiter*innenklasse heute völlig anders zusammengesetzt als noch vor 30 Jahren. Sie ist weiblicher, migrantischer und zugleich tief gespalten. Ihre Angehörigen sind deutlich häufiger im Dienstleistungsbereich und in prekären Beschäftigungsverhältnissen tätig als früher.

Die Beschäftigtenzahlen im Bergbau und in der Industrie sind zurückgegangen, bewegen sich heute in den meisten Industrieländern zwischen 12 und 20 Prozent. Gleichzeitig umfasst die Arbeiter*innenklasse so viele Lohnabhängige wie noch nie, und das wird auch die Digitalisierung trotz der absehbaren Umbrüche nicht ändern.

50 Prozent eines Jahrgangs machen Abitur, fast so viele studieren. Sie stammen aber keinesfalls mehrheitlich aus der gehobenen Mittelschicht oder finden dort ihre Zukunft. Die Meisten werden lohnabhängig Beschäftigte, häufig mit niedrigerem Einkommen als ihre Eltern, viele mit längeren Phasen prekärer Arbeit. Vielleicht werden sie auch Techniker*innen, Ingenieur*innen oder kaufmännische Angestellte. Das gehobene Bildungsniveau sagt etwas über veränderte Anforderungen der Produktionsweise aus, aber nicht notwendigerweise etwas über die Klassenlage.

Prekarisierung und Spaltung

Der finanzgetriebene Kapitalismus wird befördert durch neoliberale Politik. Das Ergebnis ist eine Spaltung und Prekarisierung der Lohnabhängigen. Leiharbeit, Werkverträge sowie neue Formen von Scheinselbstständigkeit, Befristungen und Projektarbeit kennzeichnen die neue Lage. Prekäre Arbeit ist fest in der Struktur von Industrie und Dienstleistung eingeschrieben und nicht (mehr) von wirtschaftlichen Konjunkturen abhängig. Etwa ein Drittel der Beschäftigten arbeitet und lebt dauerhaft prekär. Dazu kommt ein Auseinanderdriften der Arbeitszeit: Während die einen in unfreiwilliger Teilzeit »unterbeschäftigt« sind, leisten Millionen Überstunden und leiden unter der Entgrenzung.

Die Agenda 2010 hat einen der größten - oder »besten«, wie Gerhard Schröder es nannte - Niedriglohnsektoren der Industrieländer hervorgebracht. Neben der Absicht, die Lohnstückkosten zu senken, ging es - erfolgreich - darum, die Gewerkschaften zu schwächen. Über mehr als zehn Jahre sind die Profite schneller gestiegen als die Löhne. Das sollten wir als eine erfolgreiche »Klassenpolitik von oben« verstehen lernen. Die Erfolge der exportorientierten Industrieunternehmen beruhen auch auf dem Niedriglohnsektor, der es der Kapitalseite erleichtert, Kernbelegschaften und Prekarisierte gegeneinander auszuspielen. Die Gewerkschaften schließen für gerade noch 51 Prozent der Beschäftigten im Westen und für nur noch 37 Prozent im Osten Tarifverträge ab. Wer nicht tarifgebunden arbeitet, verdient durchschnittlich 18 Prozent weniger, von den übrigen Bedingungen ganz zu schweigen. Die Arbeit in personennahen Dienstleistungen - wo überwiegend Frauen beschäftig sind -, ist viel zu schlecht bezahlt. Doch auch in der Industrie werden Tariferhöhungen oft mit weiteren Auslagerungen und Arbeitsverdichtung »erkauft«.

Was heißt sozialistische Klassenpolitik?

Marx wird die Unterscheidung von »Klasse an sich« und »Klasse für sich« zugeschrieben. Klassen als Position im Produktionsprozess und als sozialstrukturelle Einheiten bestehen unabhängig davon, ob die Betroffenen sich ihrer Klassenzugehörigkeit gewahr sind. Klassenbewusstsein jedoch ist das Ergebnis von Organisierung, von historischen Bewegungen, von Kämpfen und Auseinandersetzungen.

Zu Beginn des neuen Jahrtausends haben sich neue Akteure und neue Streikformen herausgebildet. Beschäftigte unterschiedlicher Branchen sind besser organisiert als zuvor. Im Einzelhandel, im Bewachungsgewerbe, beim Bodenpersonal an Flughäfen, im Reinigungsgewerbe, in Callcentern oder bei Amazon wird für bessere Bezahlung und für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt. Viele der Streikenden sind Frauen, und Migranten*innen gehören oftmals zu den entschiedensten Akteuren. Beeindruckend waren die bundesweiten Kämpfe der Erzieher*innen sowie die Auseinandersetzungen am Berliner Universitätsklinikum Charité um eine tarifliche Personalbemessung. Mitglieder der LINKEN spielen dabei häufig eine vorwärtstreibende Rolle. Viele Streiks wurden durch Aktive aus den Basisorganisationen unterstützt. Das ist eine wichtige Aufgabe linker Politik.

Gemeinsame Klasseninteressen herstellen

Es ist keinesfalls selbstverständlich, dass die verschiedenen Beschäftigtengruppen gemeinsame Interessen erkennen, zusammen Forderungen aufstellen und gemeinsam handeln. Oft gilt das von Kapitalseite beförderte Prinzip des Teilens und Herrschens. So grenzen sich Beschäftigte von Erwerbslosen und Angehörige der Kernbelegschaften von Befristeten ab. In einer Untersuchung des Soziologen Klaus Dörre wurden die Befragten gebeten, folgende Aussage zu bewerten: »Eine Gesellschaft, die alle mitnimmt, ist nicht überlebensfähig.« Selbst in einem gewerkschaftlich gut organisierten Betrieb stimmten 51 Prozent dieser Aussage zu. Die jahrzehntelange Dominanz neoliberaler Ideologie sowie der ständige Konkurrenzkampf haben in den Köpfen der Menschen ihre Spuren hinterlassen. Der gleiche Mechanismus der Abgrenzung greift derzeit gegenüber Geflüchteten, wobei hier nicht nur nach »unten« getreten wird, sondern viele sich nach »außen« abschotten wollen.

Die LINKE darf die verschiedenen Milieus nicht gegeneinander ausspielen, einen Gegensatz zwischen Erwerbslosen, Prekären, Arbeiter*innen und neuen Beschäftigtengruppen, zwischen Einheimischen und Migrant*innen aufbauen. Im Gegenteil, sie muss diese Gruppen miteinander verbinden, ihre Interessen vertreten und sie perspektivisch zu einer »Gegenmacht« organisieren. Jeder Fortschritt, ob bessere Löhne und Arbeitsbedingungen oder mehr Lebensqualität durch gute Bildung, Gesundheitsversorgung, bezahlbaren Wohnraum, muss gegen die herrschende Klasse durchgesetzt werden.

Ein Ansatz für eine sozialistische Klassenpolitik ist die Initiative für ein »Neues Normalarbeitsverhältnis« der Partei Die LINKE. Sie zielt darauf, mit Forderungen nach höheren Löhnen und sozialer Absicherung, nach kürzeren Arbeitszeiten und mehr Mitbestimmung, alte und neue Beschäftigtengruppen zu verbinden, Solidarität und politischen Druck zu stärken. Gerade angesichts der aktuellen Tarifrunde der IG Metall ist die Diskussion um Arbeitszeitverkürzung ein wichtiger Anknüpfungspunkt.

Es geht aber nicht nur um Löhne und Arbeitsbedingungen. In ihren besseren Zeiten haben sich die Organisationen der Arbeiterbewegung auch um den Alltag und die Lebensqualität im umfassenden Sinne gekümmert, zum Beispiel für bessere Bildungs- und Freizeiteinrichtungen gekämpft. In der italienischen Tradition wurde vom »sozialen Lohn« gesprochen. Der Zugang zu Erziehung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Kultur entscheidet auch heute über die Lebensqualität der Beschäftigten und ihrer Familien. Entscheidend dafür ist die Umverteilung von privatem Reichtum zu öffentlichem, der allen zu Gute kommt.

Auch hier wurden in den letzten Jahren mehr Kämpfe geführt: gegen die Privatisierung von Krankenhäusern, gegen Gentrifizierung und Mieterhöhungen, gegen Milliardengräber wie »Stuttgart 21«, für die Rekommunalisierung von Strommetzen und einen besseren, preiswerteren Öffentlichen Nahverkehr, für mehr und bessere Kitas. Manchmal kommen die Interessen der Beschäftigten, der Anwohner*innen oder Nutzer*innen bestimmter Dienstleistungen unmittelbar zusammen: So nützt der Kampf der Krankenhausbeschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen auch den Patient*innen und ihren Angehörigen. Ihr Slogan »Mehr von uns ist besser für alle« ist sofort eingängig.

Dass Menschen Teil der Arbeiter*innenklasse und gleichzeitig weiblich, Migrant*innen oder Geflüchtete sind, ist kein Gegensatz, sondern die konkrete Klassenzusammensetzung heute. Inhaltlich und praktisch sollte die LINKE als »verbindende Partei« weiter daran arbeiten, zwischen verschiedenen »Identitäten« und Milieus Verbindungen herzustellen. Zur Klasse gehören auch kulturelle, ökologische und demokratische Interessen - diese gilt es ernst zu nehmen und mit sozialen Fragen (wieder) zu verbinden.

Zum Weiterlesen: Bernd Riexinger/Lia Becker: For the many, not the few: Gute Arbeit für Alle! Vorschläge für ein Neues Normalarbeitsverhältnis. Sozialismus.de (Supplement zu Heft 9 / 2017). VSA-Verlag

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