Der Künstler als Rebell
Markus Orths hat einen hochmodernen Künstlerroman über Max Ernst geschrieben
Auf der Suche nach Biografien von Ernst Max stößt man schnell auf das Buch »Nicht gerade ein Stillleben« von Jimmy Ernst. Jimmy, geboren 1920 als Hans-Ulrich Ernst, war der Sohn von Max Ernst und seiner ersten Ehefrau, der Jüdin Luise Straus. Sein Buch ist keine umfassende Lebensdarstellung. Er wendet sich der Künstlerwelt um den Vater in den 20er und 30er Jahren zu - mit dem Vorteil des Echten: Alles kommt aus der Hand eines Beteiligten.
Jimmys Geschichte und die seiner seit 1922 getrennt lebenden Eltern sind im Roman »Max« von Markus Orths ein wichtiger und überaus berührender Teil. Vielleicht wäre die Erzählung gar nicht so berührend ausgefallen, hätte Orths eine Biografie oder Monografie verfasst. Er aber hat einen Roman über Max Ernst geschrieben und ihm nach der Hauptfigur den Titel »Max« gegeben.
Jimmys Mutter Lou Straus-Ernst war mit ihrem Sohn vor den Nazis nach Paris geflohen. Doch nach der deutschen Besetzung war sie erneut schutzlos. 1940 brachte man sie als deutsche Jüdin ins größte französische Internierungslager Camp de Gurs. Als sie in Marseille auf ihre Ausreisepapiere nach Amerika wartete, wurden sie und der sich gleichzeitig dort aufhaltende Max Ernst noch einmal vom Schicksal miteinander verbunden.
Von Amerika aus versuchte Sohn Jimmy, seinen Eltern ein Visum zu verschaffen, was beinahe Erfolg gehabt hätte. Doch als der Beamte feststellte, dass sie schon 1926 rechtmäßig geschieden waren, verlor das auf das Ehepaar ausgestellte Visum seine Gültigkeit. Zu verhindern gewesen wäre das nur, wenn Max Ernst und Jimmys Mutter schnell noch einmal geheiratet hätten, was sie aber ablehnte. Eine Konsequenz, die sie das Leben kostete. 1944 wurde Lou Straus-Ernst mit einem der letzten Züge von Frankreich nach Auschwitz deportiert, wo sie kurz nach ihrer Ankunft vergast wurde.
Markus Orths, 1969 geboren im nordrhein-westfälischen Viersen, studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik. Orths hat bisher acht Romane verfasst, darunter »Lehrerzimmer« und das 2015 verfilmte Buch »Das Zimmermädchen«. In »Max« erzählt er nun also unter anderem die tragische Geschichte von Jimmys Kampf um das Leben seiner Eltern. Orths nimmt sie in all ihren dramatischen Steigerungen in verschiedenen Kapiteln seines Romans auf.
Der Autor hat das Buch in sechs Teile gegliedert und jedem eine andere Erzählperspektive gegeben. Sie folgen sechs Frauen, die für Max Ernst in bestimmten Lebensabschnitten mit Hauptrollen besetzt waren. Es beginnt mit einem Kapitel über Lou Straus-Ernst, die spätere Mutter von Jimmy, eine Kunstkritikerin und Journalistin. Ihr folgt Gala, die Frau des surrealistischen Dichters Paul Éluard. Mit beiden führte Max eine Ménage-à-trois. Gala wurde später die Ehefrau von Salvatore Dali. Nach Marie-Berthe, die in einem von ihr fanatisch gelebten Katholizismus ertrank, folgte die Malerin Leonora Carrington. Sie ging den umgekehrten Weg und fand zu einem rebellischen Atheismus. Ihr schloss sich die Kunst- und Männersammlerin Peggy Guggenheim an, ehe die Malerin Dorothea Tanning die Frau wurde, die Max Ernst 33 Jahre bis zum Ende seines Lebens begleitete.
Orths hat die Schicksale gut recherchiert. Aber er porträtiert die Frauen nicht einfach, sondern macht aus ihnen mit fiktionalem Anteil schillernde Romanfiguren. In der Summe der Geschichten dieser sechs Frauen entsteht nach fast 600 Seiten ein hochkomplexes Bild von Max Ernst. Hätte der Autor sich auf eine Biografie eingelassen, wäre er einer Themenfindung enthoben gewesen. Dann wäre ein Bild des Künstlers anzustreben gewesen, das einsehbar macht, wie Zeitgeschichte auf Person und Werk liegen und beides prägen. Das Genre des Romans braucht sehr wohl ein Thema. Markus Orths umspielt, was von Willy Brandt überliefert ist, der 1972 bei einem Treffen mit Max Ernst am Rande der Olympischen Spiele das Rebellentum des Künstlers gerühmt haben soll. Der politische Widerstandskämpfer und damalige Bundeskanzler sympathisierte mit Ernsts ewigem Widerstand, nicht nur gegen das Nazi-Regime, auch gegen jedwede Engstirnigkeit der Welt. Ein Kämpfer, ein Künstler, ein ewiger Rebell sei dieser Max Ernst, sagte Brandt.
Im Geist dieser Sätze zeichnet der Roman ein Künstlerbild, das wir heutzutage oft entbehren. Ernst verlangte von sich den Mut, der Verrücktheit der Welt die eigene entgegenzusetzen, und lebte danach. Wie viel Wohlverhalten am Ende der Kunstmarkt produziert, wie viel die politischen Verhältnisse, sind die Fragen von heute. In diese Debatte stellt Markus Orths seine Figur. Ein kluger und gerade durch die Spiegelung des Künstlers in sechs seiner Frauen sehr lesenswerter Roman.
Markus Orths: Max. Roman. Hanser, 576 S., geb., 24 €.
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