»Der Staat bricht nicht zusammen«

Vor dem Bundesverfassungsgericht wird verhandelt, ob auch Beamte streiken dürfen

Carsten Leimbach ist ein ungehorsamer Beamter. Denn er hat gestreikt. Das dürfen Beamte in Deutschland eigentlich nicht, so zumindest die vorherrschende Auffassung. Doch Leimbach, der Wirtschaftslehre und Informatik an einer beruflichen Schule in Kassel unterrichtet, sah keine andere Möglichkeit mehr. »Die Arbeitsbelastung ist zu hoch«, sagt er. In Hessen müssen Lehrer besonders viel unterrichten. Für Beamte gilt eine 42-Stunden-Woche. »Aber auch dabei bleibt es meist nicht«, kritisiert der 49-Jährige. 2009 gingen er und einige Tausend andere Lehrer in Hessen auf die Straße und forderten von der Landesregierung die Rücknahme der Pflichtstundenerhöhung.

Leimbach handelte sich dafür seine zweite Missbilligung durch die Schulleitung ein. 2003 hatte er schon einmal gestreikt. Doch diesmal legte er Widerspruch ein. Auch Beamte sollten Arbeitskämpfe führen dürfen, statt Ermahnungen und Disziplinarstrafen zu riskieren, findet er. »Das Streikrecht ist ein Menschenrecht.«

Am Mittwoch nun wollen sich die obersten deutschen Verfassungsrichter in Karlsruhe die Argumente für und wider das Beamtenstreikrecht anhören. Geklagt haben vier beamtete Lehrer aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. GEW, DGB und ver.di unterstützen die Verfassungsbeschwerden. Dabei geht es nicht allein um die Rechte verbeamteter Lehrer, sondern sämtlicher Beamter im Staatsdienst, sofern sie nicht originär hoheitlich tätig sind, wie es zum Beispiel bei Polizei und Justiz der Fall ist. Diese Einschränkung wollen Befürworter des Streikrechts denn auch machen.

Die Verteidiger des Status quo argumentieren mit der Funktionsfähigkeit des Staates. Sie sehen mit dem Streikrecht gar den gesamten Beamtenstatus fallen. Zur Debatte in Karlsruhe steht somit die Frage, was Beamte in der heutigen Zeit ausmachen soll. Dabei werden recht altertümlich anmutende Begriffe wie Treue und Pflichterfüllung auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten abgeklopft werden.

Grund für Arbeitskämpfe gibt es aus Sicht der Gewerkschaften auch für Beamte genug. Spätestens seit der Föderalismusreform beobachten sie eine problematische Entwicklung. Früher galt der Grundsatz: Die Besoldung folgt dem Tarif. Nach Abschluss der Tarifverhandlungen für die Angestellten im Öffentlichen Dienst war es üblich, dass die jeweilige Erhöhung auf die Beamten übertragen wurde. Doch damit ist es seit einigen Jahren vorbei. »Mittlerweile ist die Übernahme des Tarifabschlusses von der Kassenlage der Länder abhängig. Je ärmer ein Bundesland ist, desto schlechter bezahlt es seine Beamtinnen und Beamten«, kritisiert die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. Mal würden Tariferhöhungen nur zeitversetzt übernommen, mal wird die Erhöhung bei der Übertragung gesenkt.

Im Moment können Gewerkschaften dagegen nur mit aufrüttelnden Appellen oder überzeugender Öffentlichkeitsarbeit vorgehen. Wirksam Druck machen gegenüber dem Arbeitgeber können sie nicht. Der Beamtenstatus gehöre modernisiert, fordert daher Tepe. Seine Grundsätze stammten aus dem 19. Jahrhundert. »Sie wurden nie von einem Parlament beschlossen.«

Das Streikverbot ist durch Auslegung der im Beamtenrecht verankerten Treuepflicht entstanden. Aus Sicht des Beamtenbunds dbb gibt es dafür jedoch bis heute guten Grund. Der Dachverband verweist auf die Erwartungen der Bürger an Verlässlichkeit und Neutralität des Staates. Das besondere öffentlich-rechtliche Dienst- und Treueverhältnis sei »kein alter Zopf«, weist dbb-Chef Ulrich Silberbach Reformforderungen zurück. Es sei vielmehr »die dauerhafte Voraussetzung für die wirksame Entfaltung der Demokratie und die Einhaltung von Recht und Gesetz für alle«.

Die GEW will den Zopf nicht abschneiden, wohl aber lockerer flechten. Die Bildungsgewerkschaft plädiert dafür, die Treuepflicht neu zu interpretieren. Sie beruft sich dabei auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2009, wonach ein Streikverbot allenfalls mit der Funktion, nicht aber mit dem Status eines Beschäftigten begründet werden darf. Das bedeutet: Polizei und Gefängniswärter dürften nicht in den Ausstand gehen, aber Staatsdiener in weniger heiklen Bereichen könnten demnach für bessere Arbeitsbedingungen streiken. Auch die Internationale Arbeitsorganisation hat die Bundesrepublik mehrfach wegen des »Beamtenstreikverbots« gerügt.

Den Status der Beamten sieht die GEW durch ihre Forderung nicht angekratzt. »An den Anforderungen wie Loyalität, dem vollen beruflichen Einsatz oder der unabhängigen Wahrnehmung der Amtspflichten ändert sich nichts«, betont Marlis Tepe. Auch der DGB rät zur Entspannung: »Der Staat bricht nicht zusammen, nur weil Lehrerinnen und Lehrer oder Beamtinnen und Beamte im Verwaltungsbereich für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen können«, sagt Elke Hannack, stellvertretende DGB-Vorsitzende.

Der hessische Lehrer Carsten Leimbach hat eine klare Vorstellung, was Treue und Pflichterfüllung für ihn bedeuten: »sich intensiv um die anvertrauten Jugendliche kümmern oder den geregelten Feierabend auch mal hintenan zu stellen«. Ein Streik für mehr Personal oder entlastendere Arbeitszeiten schmälert dieses Engagement nicht, findet der Wirtschaftslehrer. Ein endgültiges Urteil wird das Bundesverfassungsgericht nach der Anhörung im Laufe der nächsten Monate fällen. Liegt es vor, wird in Hessen auch über Carsten Leimbachs Widerspruch aus dem Jahr 2009 entschieden. Vielleicht hat sich dann das Bild eines ungehorsamen Beamten gewandelt.

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