Träumen für den Kontinent

Die europäische Integration, der Euro und die europäische radikale Linke

  • Jochen Weichold
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Diskussionen zu Fragen der europäischen Integration und zum Euro verlaufen viel zu oft, ohne dass die ökonomischen Prozesse berücksichtigt werden, die dieser Integration zugrunde liegen und die aus der Internationalisierung des Kapitals als objektiver Prozess resultieren. Ein objektiver Prozess lässt sich nicht verhindern, er kann aber gestaltet und beeinflusst werden.

Die radikalen europäischen Linken sind in der Frage des Integrationsprozesses in Europa traditionell zutiefst gespalten. Hier lässt sich ein Spannungsbogen beobachten, der vordergründig durch die Pole »Föderalismus« versus »Souveränismus« geprägt ist (Klaus Dräger, früherer Mitarbeiter der linken GUE/NGL-Fraktion im Europäischen Parlament). Auf dem »souveränistischen« Pol sind unter anderen die griechische Kommounistiko Komma Elladas, die Partido Comunista Português, die schwedische Linkspartei und die Rot-Grüne Einheitsliste aus Dänemark zu verorten. Bei unterschiedlichen Motiven und Argumentationslinien sehen diese Parteien ihr langfristiges Ziel in einer europäischen Integration, die eher als Kooperation zwischen souveränen Nationalstaaten gestaltet werden soll.

Zur Person
Jochen Weichold, Jahrgang 1948, ist Politikwissenschaftler und arbeitete lange bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Mitglied des Gesprächskreises »Parteien und soziale Bewegungen« bei der Stiftung. Er beschäftigte sich mit europapolitischen Fragen ebenso wie mit der Analyse des deutschen Parteiensystems, speziell mit der Entwicklung der LINKEN und der Grünen.

Auf dem »föderalistischen« Pol stehen - bei vielen Unterschieden im Detail und bei einer ganzen Reihe offener Fragen - die Mehrheit der Mitgliedsparteien der Europäischen Linken (EL), darunter die griechische SYRIZA, die deutsche LINKE, die spanische Izquierda Unida und die Parti Communiste Français. Die EL fordert unter anderem die Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments durch ein legislatives Initiativrecht und will den Euro erhalten. Dabei geht der Riss in der Europa-Frage durchaus auch quer durch einzelne Parteien hindurch.

Heute wollen die einen unter den Linken - wie das Lexit-Netzwerk oder die Initiative Eurexit - aus der Europäischen Union und/oder aus dem Euro aussteigen. In ihrem Aufruf »Eine Alternative zum Euro« plädiert die Initiative Eurexit, zu deren Erstunterzeichnern Oskar Lafontaine und Diether Dehm gehören, für eine einvernehmliche Auflösung der Einheitswährung zugunsten eines neuen europäischen Währungsregimes. Jean-Luc Mélenchon von der Parti de Gauche in Frankreich plädiert für einen Plan B, mit dem der »Ausstieg aus den Verträgen« der Europäischen Union zumindest vorbereitet werden soll.

Andere Linke in Europa möchten als Reaktion auf die Probleme der heutigen EU die Union weiterentwickeln zu einem europäischen Bundesstaat. Für den im Sommer 2016 verstorbenen Ökonomen Herbert Schui konnte das Ziel nicht im »Zurück zum alten Nationalstaat« bestehen, sondern im Vorwärtsschreiten in Richtung Bundesstaat mit seiner klassischen Aufgabenteilung. Die vom früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis und Mitstreitern aus zwölf weiteren Ländern Europas ins Leben gerufene neue pan-europäische Bewegung Democracy in Europe - Movement 2025 (DiEM 25) bekennt sich ausdrücklich zu der »außerordentlichen Leistung« der europäischen Integration und sieht die Lösung des Problems nicht in einem »Rückzug in den Kokon unserer Nationalstaaten«, sondern in einem »demokratischen Aufbruch«, in einer »echten« Demokratisierung der Europäischen Union.

Neben mehr Transparenz gehe es um den Umbau der EU-Institutionen auf dem Weg über eine Verfassungsgebende Versammlung, die aus Vertretern besteht, die über transnationale Listen gewählt werden. Diese Versammlung werde die Befugnis haben, über eine künftige demokratische Verfassung zu entscheiden, die innerhalb eines Jahrzehnts die bestehenden europäischen Verträge ersetzen soll. Ziel sei es, Europa spätestens bis 2025 in eine »voll entwickelte Demokratie mit einem souveränen Parlament« zu verwandeln, welches die nationale Selbstbestimmung respektiert.

Leider kann die radikale europäische Linke heute kaum sagen, ob die Integration in Richtung einer internationalen Organisation, eines Staatenbundes oder eines Bundesstaates gehen soll. Klar ist lediglich, dass die EU nicht Teil einer Freihandelszone werden soll. Es fehlen konkrete politische Konzepte und Strategien dafür, wie Weltoffenheit und lokale wie globale Solidarität durchsetzbar werden können, so die Europaabgeordnete Martina Michels. Offensichtlich schlagen auch in der Frage der europäischen Integration die gegensätzlichen Positionen in der Linken zur bestehenden kapitalistischen Gesellschaft durch - nämlich Fundamentalkritik versus Gestaltungsanspruch.

Zusätzlich mischt sich dies mit der Reflexion diffuser Ängste in der Bevölkerung der europäischen Staaten vor der Globalisierung wie vor einer modernen Welt mit einem neuen Lebensstil und - insbesondere in kleineren Ländern - vor dem Verlust der nationalen Identität. Vor diesem Hintergrund übernimmt ein Teil der Linken das gängige EU-Bashing, anstatt deutlich zu machen, dass die Probleme in der Europäischen Union und mit ihr zum großen Teil an der Politik der nationalen Regierungen liegen und nicht an der EU »an sich«.

Die Geschichte der europäischen Integration war immer wieder durch Krisenerscheinungen wie die »Eurosklerose« der 1980er Jahre gekennzeichnet. Die Widersprüchlichkeit des Integrationsprozesses entpuppte sich aber auch als Triebkraft der Entwicklung, wie die Auflösung der damaligen Momente der Stagnation und Erosion in der Einheitlichen Europäischen Akte belegt. Auch die heutige Krise, ausgelöst durch die Brexit-Entscheidung der Briten, kann eine neue Chance sein, die europäische Integration zu vertiefen. So regte der französische Präsident Emmanuel Macron am 26. September 2017 in seiner Rede in der Pariser Sorbonne an, eine europäische Finanztransaktionssteuer einzuführen, einen eigenen Haushalt für die Euro-Zone zu schaffen, die Körperschaft- oder Unternehmenssteuern in der EU zu harmonisieren, die Sozialversicherungssysteme anzugleichen und transnationale Wahllisten bei den Europawahlen einzuführen.

Anfang Dezember 2017 sprach sich der SPD-Vorsitzende Martin Schulz im Sinne der Vorschläge Macrons für eine Wende in der Europapolitik aus und plädierte für eine gemeinsame europäische Steuerpolitik mit Mindeststeuersätzen und für eine gemeinsame europäische Sozialpolitik, die Sozialdumping verhindert. Schon im Kontext eines Treffens führender Sozialdemokraten Mitte September 2015 in Wien war für ein gemeinsames Brüsseler Budget mit Transferunion, für die Abkehr von der Austeritäts-Politik und für eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik geworben worden.

Die europäische radikale Linke wäre schlecht beraten, für einen Ausstieg aus der Europäischen Union und/oder aus dem Euro zu plädieren. Das würde nur der europafeindlichen bzw. europaskeptischen politischen Rechten in die Hände spielen. Zudem besitzen in einer multipolaren Welt nur die großen Mächte - seien es Einzelstaaten wie die USA und China oder regionale Zusammenschlüsse wie die EU - das notwendige wirtschaftliche und damit auch politische Gewicht, um die ökonomische und politische Weltordnung aktiv formen zu können. Dagegen müssen kleinere Mächte diese Ordnung lediglich als gegeben hinnehmen.

Bedenkt man, dass die drei wirtschaftlich stärksten Mitgliedsländer der EU27 im letzten Vierteljahrhundert jeweils deutlich mehr als ein Drittel ihres Anteils am Welt-Bruttonationaleinkommen verloren haben, werden - wenn man diese Trends extrapoliert - in einigen Jahrzehnten weder Frankreich noch Italien und auch nicht Deutschland zur Gruppe der G7, der sieben stärksten Industrienationen, gehören. Sie würden, wenn sie die Europäische Union verließen, faktisch auch »zu Zwergen auf der internationalen Bühne«, wie die Historiker Brendan Simms und Benjamin Zeeb in ihrem Buch »Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa« schreiben.

Die Euro-Einführung war wesentlich ökonomiegetrieben und liegt in der Logik der europäischen und der internationalen Integration von Handel und Kapitalströmen. Würde Deutschland die Euro-Zone verlassen und zur nationalen Währung zurückkehren, wäre die sofortige Folge eine massive Aufwertung der Deutschen Mark. Da die hier produzierten Güter zu teuer wären, um weiterhin konkurrenzfähig zu sein, würden die Exporte Deutschlands weltweit einbrechen. Es kämen erhebliche ökonomische Belastungen auf Wirtschaft und Arbeitswelt zu, die den Beschäftigten aufgebürdet würden. Zudem würde eine Rückkehr zu nationalen Währungen letztlich auf eine Unterwerfung unter den internationalen Kapitalverkehr hinauslaufen. Der Rückzug in den nationalstaatlichen Kokon wäre also weder wirtschaftlich zweckmäßig noch eine linke Antwort auf die zu lösenden Fragen.

Anstatt die Europäische Union und/oder die Euro-Zone zu verlassen, geht es vielmehr darum, die politischen Kräfteverhältnisse innerhalb der EU so zu verändern, dass eine fortschrittliche Reform der EU erreicht werden kann. Die europäische politische Linke sollte sich des Geistes des »Manifests« erinnern, das die Antifaschisten um Altiero Spinelli auf der italienischen Gefängnisinsel Ventotene 1941 verfassten, in der Mitte des Zweiten Weltkrieges, als der Faschismus unaufhaltsam zu sein schien: »Ein freies und vereintes Europa ist die unausweichliche Voraussetzung für die Durchsetzung der modernen Kultur, deren Entwicklung die totalitäre Epoche aufgehalten hat.«

Die Linke steht vor der Aufgabe, eine zeitgemäße Vision eines gemeinsamen Europa zu entwickeln und die Menschen damit zu begeistern. Die Erzählung eines »Europäischen Traums« muss sich mit einem glaubhaften Versprechen von Wohlstand und Teilhabe und unmittelbar spürbaren realen Schritten in diese Richtung verbinden. Dieses Versprechen muss sich messen lassen an der realen Verwirklichung der Bürgerrechte, Grundfreiheiten und aller Menschenrechte, an der Verbesserung der Lebensqualität und der Sicherung des Friedens. Grundlage dessen sind eine vergemeinschaftete europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik und die Schaffung einer Transfer-Union, um die Sünden, die bei der Installierung der Europäischen Währungsunion begangen wurden, zu »heilen«.

Dafür müssen unkonventionelle Bündnisse geschmiedet werden - so wie es heute schon Praxis im Europäischen Parlament ist, für einzelne Sachfragen über Fraktionsgrenzen hinweg Mehrheiten zu organisieren. Dann kann der »Europäische Traum« Schritt für Schritt Realität werden.

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