Die LINKE spricht nur eine Minderheit der Lohnabhängigen an

Soziale und politische Milieus und Lager und die Frage »verbindender Klassenpolitik«

  • Ralf Krämer
  • Lesedauer: 7 Min.

Zur Diskussion um »verbindende Klassenpolitik« und die Frage, was das wirklich bedeuten müsste, will ich versuchen, die wirklichen Differenzen klar zu machen und zuzuspitzen. Dabei geht es nämlich nicht um die Frage der sozialstrukturellen Zusammensetzung der lohnabhängigen bzw. ArbeiterInnenklasse (also dass diese zunehmend weiblich, migrantisch, höher qualifiziert, prekär, im Dienstleistungssektor tätig, sexuell und sonstwie divers ist usw.). Es ist ein Popanz, dass das jemand bestreiten würde.

Dieser Text von Michael Vester über soziale und politische Milieus und Lager und die Potenziale des Rechts­populismus und politischer Mobilisierung ermöglicht da einen viel ernsthafteren und realistischeren Zugang: Es werden dort sieben ideologische Lager betrachtet und im sozialen Raum verortet. Diese setzen an sozialen Lagen und Interessen an, verarbeiten sie aber ideologisch in unterschiedlicher, durch historische soziale Zusammenhänge und Entwicklungen geprägter Weise. Sie haben als Lager eine erhebliche Stabilität über die Jahrzehnte, auch wenn sie besonders in den letzten Jahrzehnten unter Anpassungsdruck stehen und sich intern in Zusammensetzung und einigen Eigenschaften und in ihren Relationen zueinander verändern. Auch wie sie sich wahlpolitisch verhalten, ist durchaus in Veränderung, als Reflex gesellschaftlicher Veränderungen und auch veränderter Positionierungen der Parteien. In der folgenden Übersicht finden sich in Klammern die etwas mehr im Soziologen-Jargon gehaltenen Bezeichnungen, die in dem oben genannten Papier verwendet werden.

Politische Lager und ihre Ideologien

Zwei der Lager sind sozial vor allem, aber nicht nur in den oberen Bereichen (der Lohnabhängigen) verankert, nämlich das der »Elitären Progressiven« und das der »Rechtskonservativen«. Die anderen sind primär in unteren und mittleren Bereichen der Lohnabhängigen verankert, habituell und politisch ideologisch aber von eher links (»Egalitäre Progressive«) über »Modernisierende Konservative« (als ideologische Orientierung, nicht unbedingt parteipolitisch gemeint) bis zu »Rechtsextremen«. Die verschiedenen Milieus bzw. Lager sind in dem Text weitergehend beschrieben in Bezug auf die überwiegenden Eigenschaften und Haltungen der Menschen, die da zugeordnet werden.

Dabei sind die Rechtskonservativen die Hochburg der CDU/CSU und umfassen sozial auch überwiegende Teile der kapitalistischen bzw. großbürgerlichen Klasse (die als solche nicht vorkommt in dem Modell – ein Mangel, aber die ist ja auch nicht zahlenmäßig sehr groß, »nur« reich und mächtig). Und die »Rechtsextremen« sind die Stammbasis der AfD und NPD, mit einem hohem Maß an rassistischen Einstellungen. Beide Lager werden mit je etwa 14 Prozent der Bevölkerung quantifiziert, wobei die Quantitäten nicht so genau zu nehmen sind. In den beiden Gruppen haben Linke nichts zu holen, wenngleich die SPD auch da noch relevante Anteile hat oder hatte.

Die im engeren Sinne linken Kernmilieus sind die beiden »Progressiven«-Lager. Hier sind ansonsten SPD und Grüne stark. Die SPD ist oder war traditionell auch stark, teilweise überdurchschnittlich, vertreten bei den »Strukturbenachteiligten«, die aber auch stark anfällig für Wahlenthaltung und für Rechts sind, sowie auch bei den »Modernisierenden Konservativen« und bei den skeptisch-distanzierten Arbeitnehmermilieus. Offenbar verliert die SPD in all diesen Milieus erheblich, das müsste noch genauer betrachtet werden.

Was bedeutet nun vor diesem Hintergrund linke, sozialistische oder verbindende Klassenpolitik, oder was müsste sie bedeuten? Meines Erachtens das, was der Name sagt: Sie müsste gemeinsame Interessen betonen, verbindende Forderungen entwickeln und in den Mittelpunkt stellen sowie möglichst breit möglichst viele Lohnabhängige ansprechen und auf Gewerkschaften, linke politische Kräfte, Organisationen und Bewegungen orientieren. Also möglichst viele Menschen ansprechen und zu gewinnen versuchen, die durchaus verschiedenen der beschriebenen ideologischen Lager zuzuordnen sind, wobei klar ist, dass da unterschiedlich gute Anknüpfungspunkte und Chancen bestehen.

Das bedeutet konkreter: Es reicht nicht, sich auf die beiden »Progressiven«-Lager mit ihren »Multikulturalismus«-Haltungen zu konzentrieren, zumal das »Elitär-Progressive« Lager auch erhebliche, sich nach unten abgrenzende Ausprägungen aufweist. Genau darauf droht es meines Erachtens bei denjenigen hinauszulaufen, die meinen, sie müssten »Klassenpolitik« immer mit weiteren Attributen wie »neu«, »antirassistisch«, »intersektional«, »emanzipatorisch« und ähnliches verbinden, und die in bestimmter verengter Weise sich als »Bewegungslinke« begreifen, um sich zu anderen abzugrenzen. Diese beiden Milieus machen zusammen weniger als ein Viertel der Bevölkerung aus. Vielleicht konnte oder könnte die LINKE das tun, wenn sie mit etwa zehn Prozent bei Wahlen zufrieden sein wollte, und die anderen Lohnabhängigen-Milieus der SPD überlassen. Da die SPD jedoch immer weniger in der Lage ist, diese Milieus anzusprechen, ist das zunehmend ein Problem und führt nicht weiter.

Die LINKE muss sich entweder so aufstellen und ein Profil entwickeln, dass sie in viel stärkerem Maße als bisher auch die »Realistisch-Progressiven«, die »Strukturbenachteiligten« und auch die »Modernisierend-Konservativen« anspricht und gewinnt. Das muss dann selbstverständlich irgendwie von links andocken an die dort verbreiteten Haltungen und darf sie nicht zu krass abschrecken – wobei die bei den »Strukturbenachteiligten« anzutreffende Fremdenfurcht eben zum Glück überwiegend nicht rassistisch motiviert ist. Diese drei Lohnabhängigenmilieus bilden zusammen fast 50 Prozent und sind damit entscheidend für alle Versuche, Mehrheiten zu bilden. Oder, wenn die LINKE das nicht will oder kann und SPD und Grüne auch nicht, wäre tatsächlich eine Neuformierung nötig, die dazu in der Lage wäre. Oder die Linke (im weitem Sinne) würde diese Milieus sehenden Auges der CDU/CSU, FDP oder gar der AfD überlassen. Aktivitäten gegen Rassismus, gegen Sexismus usw. sind sinnvoll und notwendig (in einer geeigneten Form, die gewinnt und nicht abschreckt), aber die Vorstellung, mit Agitation und Aktionen dagegen und gegen Rechts bzw. gegen die AfD könnten diese Lager gewonnen werden, ist völlig unrealistisch.

Ich denke, das ist in der Tat der Knackpunkt und die Kontroverse in der LINKEN sowie auch in der Sozialistischen Linken: Soll sich die LINKE dieser Aufgabe stellen? Diskutieren und versuchen wir eine Politik zu entwickeln und sind wir offen für politische Entwicklungen, die ernsthaft darauf gerichtet und geeignet sein könnten, diese genannten Gruppen bzw. Milieus anzusprechen und möglichst viele Menschen daraus zu gewinnen? Ich habe auch kein Patentrezept, wie das gelingen kann und diese Herangehensweise umfasst auch sicherlich nicht alle Fragen, die sich dabei stellen. Die Ebene der Politik, der sozialen und politischen Mobilisierung und der Parteienorientierung, hat weitere besondere Logiken und Probleme, die zu beachten sind.

Der inhaltliche Knackpunkt dabei scheint mir aber zu sein, um mehr als eine überschaubare Minderheit der Lohnabhängigen anzusprechen und zu gewinnen, müsste DIE LINKE (oder auch die Linke in breiterem Sinne) insbesondere glaubwürdige und überzeugende Antworten auf das Bedürfnis der Mehrheit der Menschen nach Sicherheit und Schutz in umfassendem Sinne und nach sozialer Gerechtigkeit bieten. Und der Knackpunkt dabei ist wiederum, dass das realistisch im Kern nur durch eine entsprechende Politik des (National-) Staates als sozialer und demokratischer Rechtsstaat für die hier dauerhaft lebenden Menschen zu machen ist (von denen die ganze Zeit die Rede ist, um deren Interessen und Einstellungen es geht). Dies darf nicht geleugnet werden, sondern es muss versucht werden, dies zu verbinden mit einer Haltung und Politik der Solidarität für Menschen in Not, die in Deutschland Schutz suchen, ebenso wie für die weitaus größere Zahl, die in ihren Heimatregionen bleiben (müssen). Ohne den Anspruch sozialer Gestaltung, und das heißt auch sozialer und humaner Regulierung, von Migration wird das aber nicht gehen. Regulierung bedeutet nicht Abschottung, Obergrenzen oder Abschiebungen, aber auch nicht offene Grenzen und unbegrenztes Bleiberecht bedingungslos für alle.

Die Alternative wäre: Wir konzentrieren uns auf ohnehin schon linke und aktivistische Gruppen und die Stärkung der LINKEN in den Milieus, die wir ohnehin stark ansprechen – wo wir aber nur Grüne und SPD verdrängen. Nur erstere Haltung verdient meines Erachtens ernsthaft die Bezeichnung sozialistische und verbindende Klassenpolitik. Die andere würde, jedenfalls wäre das stark zu befürchten, die LINKE bei zehn Prozent einsperren und ihren Beitrag dazu leisten, dass die Konservativen und Rechten eine zunehmende politische Mehrheit und Hegemonie gewinnen.

Die Perspektive eines politischen Richtungswechsels nach links, einer progressiven Ablösung des autoritären Neoliberalismus, wäre damit auf absehbare Zeit ins Nirvana verbannt. Um so mehr gilt das selbstverständlich für alle Perspektive einer weitergehenden sozialistischen Umgestaltung oder auch einer sozial-ökologischen Transformation. In Zeiten rapider gesellschaftlicher Bewegung und Veränderung, in revolutionären Phasen, können zwar auch die Einstellungen der Menschen sich schnell und stark ändern, aber viele Grundorientierungen sind tief verwurzelt und ändern sich, wenn überhaupt, nur in sehr langen Zeiträumen und gesellschaftlich betrachtet hauptsächlich über den Generationenwechsel. Außerdem beteiligt sich normalerweise nur eine Minderheit aktiv an Bewegungen und ist eine revolutionäre Phase nicht in Sicht. Jede demokratische und sozialistische Politik muss mit den Menschen umgehen und sie gewinnen, die tatsächlich leben und die Gesellschaft bilden, mit den Haltungen, die sie heute und in absehbarer Zukunft haben.

Ralf Krämer arbeitet als Gewerkschaftssekretär. Er ist Mitglied im Parteivorstand und einer der SprecherInnen der Sozialistischen Linken in der Partei DIE LINKE.

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