Schicht vorm Tor

Beim Kupplungs- und Lagerhersteller Renk in Hannover steht die Produktion am Mittwoch einen Tag lang still

  • Jörn Boewe, Hannover
  • Lesedauer: 6 Min.

Mittwoch, früh um fünf in einem Industriegebiet in Hannover: Ein paar Männer mit roten Warnwesten zünden Feuer in einer durchlöcherten Tonne an. Der Januar ist viel zu warm, aber wenn man draußen steht, friert man schneller, als man denkt. Und sie wollen den ganzen Tag hier stehen. 250 Betriebe wird die IG Metall ab 6 Uhr früh bundesweit für 24 Stunden bestreiken, und ihr Betrieb, der Kupplungs- und Lagerhersteller Renk AG Hannover, ist der erste im ganzen Tarifbezirk Niedersachsen/Sachsen-Anhalt.

Die letzten Handgriffe werden erledigt. Das Zelt auf der anderen Straßenseite steht schon, Kaffee ist gekocht. Fahnen und Transparente werden ausgerollt, Lautsprecher und Verstärkeranlage aufgebaut. Zweimal sind sie im Januar schon in den Warnstreik getreten. Einmal für 40 Minuten, einmal für drei Stunden. Aber das jetzt ist etwas anderes.

Um sechs ist die Menschenmenge vor dem Werkstor auf gut 100 Leute angewachsen. »Die Frühschicht steht komplett vorm Tor«, ruft einer. Das ist wohl kaum übertrieben, 350 Beschäftigte arbeiten hier, alles in allem. Aber nicht heute. Streikposten stellen sich vor die Einfahrt. Blockieren wäre zu viel gesagt. Es werden keine Tore zugekettet oder verschweißt, es gibt nicht mal Absperrband. Ab und zu fährt ein Fahrzeug vorsichtig im Schritttempo an das Tor heran. Die Streikenden kontrollieren Passierscheine - nur wer unter eine Notdienstvereinbarung fällt, darf rein. Alles in allem vielleicht 20 Leute, Instandhaltungstechniker, Werkschutz, ein paar leitende Angestellte, die halbherzig ausgepfiffen werden. Die Stimmung vorm Tor ist nicht aggressiv, aber entschlossen. Und: Die Produktion steht komplett still, einen Tag lang, über drei Schichten. Das ist der sprichwörtliche Schuss vor den Bug.

Über 80 Prozent der Beschäftigten hier sind in der IG Metall organisiert, heißt es. Dirk Szobries ist einer von ihnen. Er ist Programmierer, Spezialist für CNC-Drehmaschinen. »Ich geh hier gern zur Arbeit«, betont er. Seit 33 Jahren arbeitet er hier. »Ich streike nicht gegen den Betrieb«, meint er, »sondern für unsere Forderungen.« Und die sind: sechs Prozent mehr Lohn, Anspruch auf befristete Teilzeit mit Rückkehrrecht zur Vollzeit, einen Teillohnausgleich für Schichtarbeiter und Beschäftigte, die Kinder erziehen oder Angehörige pflegen. Mehr Lohn wollen sicherlich alle, aber dieses Teilzeit-Ding? Ist das nicht ein bisschen kompliziert und speziell? »Für mich ist es das Wichtigste überhaupt«, meint Dirk. »So wichtig wie die 35-Stunden-Woche.« Nicht dass er selbst unbedingt kürzer arbeiten will. Aber etwas verändert sich. Immer mehr junge Väter gehen in Elternzeit - noch vor wenigen Jahren war das kein Thema. Die ersten Antragsteller wurden schief angeguckt und abgewimmelt - nicht nur von der Geschäftsleitung. Auch der Betriebsrat tat sich schwer. Bis ein Betriebsratsmitglied selbst einen Antrag stellte.

Diese kleinen Veränderungen sind immer wieder ein Thema, auch wenn hier nicht jeder das Wort vom »kulturellen Wandel« im Mund führt. »Früher war es normal, dass man sich der Firma komplett verpflichtet hat, die Arbeit war das Wichtigste im Leben«, sagt Maria Tragouda, die als Angestellte im Qualitätsmanagement beschäftigt ist. »Das ist heute anders, viele Jüngere wollen das nicht mehr.« Junge Familien, Mütter wie Väter, wollen mehr Zeit für ihre Kinder. Und natürlich gehe es nicht nur um die schöne neue »Work-Life-Balance«, sondern auch um Verpflichtungen, Notwendigkeiten - Kindererziehung und Pflege, in Zeiten von Kitaplatzmangel und Pflegenotstand. Anspruch auf zwei Jahre Arbeitszeitverkürzung auf 28 Stunden würde diese Probleme zwar nicht lösen, meint sie. »Aber zumindest hätten wir mal einen Fuß in der Tür.«

Das Problem ist, dass sie bei den Arbeitgeberverbänden bislang auf Granit beißen. Deshalb jetzt die 24-Stunden-Streiks, das neue, 2015 vom letzten Gewerkschaftstag beschlossene Kampfmittel. Unterhalb der Schwelle eines flächendeckenden Erzwingungsstreiks steht der IG Metall damit ein mittelschweres Geschütz zur Verfügung: leichter in Stellung zu bringen, weil auch ohne aufwändige Urabstimmung punktuell einsetzbar, aber dennoch wirkungsvoll. Den Verlust durch den eintägigen Produktionsausfall mag hier niemand beziffern, aber alle sind sich einig, dass er spürbar ist. »Für uns ist das eine neue Qualität von Warnstreik«, meint Dirk Schulze, der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Hannover. Im Übrigen verwendet am Mittwoch in Hannover niemand die Bezeichnung »24-Stunden-Streik« - alle reden nur von »Powerstreiks«. Das Wort fühlt sich gut an. Drei Tage hintereinander »Powerstreik« und am Wochenende mal sehen, ob sich Gesamtmetall bewegt. Wenn nicht, dürfte es zügig zur Urabstimmung kommen. Erste Erzwingungsstreiks Mitte Februar wären die Folge.

Wetten abschließen will hier heute keiner. Die Nachrichten, die im Laufe des Tages aus Richtung der Arbeitgeber eintrudeln, tragen nicht unbedingt dazu bei, das Unbehagen zu zerstreuen. Mehrere ihrer Regionalverbände heißt es, haben Schadenersatzklagen gegen die IG Metall eingereicht, nachdem die als Scharfmacher bekannten sächsischen Metallarbeitgeber bereits am Mittwoch am Sitz der IG Metall in Frankfurt am Main geklagt hatten. Die Bayern kündigen eine Verstärkung der Tarifflucht an. Alles in allem geben die Metallarbeitgeber nicht das Bild ab, besonders rational und strategisch überlegt vorzugehen. Aber so richtige Schadenfreude will darüber nicht aufkommen. Es melden sich auch keine Abenteurer und Maulhelden zu Wort. Die Aussicht auf einen möglichen Erzwingungsstreik lässt niemanden jubeln. Im Gegenteil: Kommt das Gespräch darauf, ziehen die Leute die Stirn in Falten. Vielleicht ist das ein Zeichen, dass der große Krawall tatsächlich vor der Tür steht.

Aber dann kommen noch Nachrichten, die Mut machen. Rund eine halbe Million Beschäftigte sind bundesweit an den »Powerstreiks« beteiligt, gibt die IG Metall bekannt. Im MAN-Stammwerk München haben Metaller die Produktion seit Mitternacht stillgelegt - was in Hannover gut ankommt, denn Renk gehört zum MAN-Konzern. Auch bei der Heidelberg Manufacturing im baden-württembergischen Amstetten ging der Ausstand in der Nachtschicht los, Streiks beim Autozulieferer Federal Mogul und beim Fahrzeugbauer John Deere in Rheinland-Pfalz, bei der Flensburger Schiffbau-Gesellschaft, bei Thyssenkrupp in Nordrhein-Westfalen, den Elbeflugzeugwerken in Dresden und vielen, vielen anderen Betrieben in allen Bundesländern.

Bleibt die Frage, warum eine Forderung nach einem Teilzeitmodell so eine merkwürdige Euphorie auslösen kann. Und vielleicht liegt dahinter tatsächlich noch etwas anderes. Nico Lopopolo, der Betriebsratsvorsitzende von Renk, wirft es an diesem Mittwochmorgen in die Runde: »selbstbestimmtes Arbeiten«. Was er meint: Beschäftigte wollen ihr Arbeitsleben heute stärker mitgestalten als früher und an ihre eigenen Bedürfnisse anpassen. Und dabei sei die Frage der Arbeitszeit eben zentral. »Wir haben damit den Nerv getroffen«, ist er sich sicher. Deshalb wundert ihn die hohe Streikbeteiligung nicht. Auch nicht, dass immer mehr Angestellte ins Streikzelt kommen, obwohl die Zeiten noch nicht so lange her sind, wo diese Beschäftigtengruppe mit der IG Metall nicht viel am Hut hatte. »Die Leute ziehen mit«, sagt er. »Jetzt ist der richtige Moment, zusammenzustehen. Man kann nicht immer nur die Lippen spitzen - man muss auch mal pfeifen.«

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