Wettlauf mit dem Tod

Das Gesundheitswesen in Italien befindet sich in desaströsem Zustand

  • Wolf H. Wagner, Florenz
  • Lesedauer: 3 Min.

Mirella O., italienische Krankenschwester in Savona, hätte vielleicht nicht sterben müssen. Die 58-Jährige fühlte ein Unwohlsein, Kreislaufschwierigkeiten und wurde von ihrem Hausarzt an einen Spezialisten überwiesen. Monatelang musste sie auf einen Diagnostiktermin warten, schließlich wurde eine Vorstellung bei einem Kardiochirurgen vereinbart. Und abgesagt. Anfang Januar sollte sie erneut vorgestellt werden. Doch an jenem Donnerstag rief die Abteilung aus dem Krankenhaus San Martino in Genua an und erklärte, der Arzt sei krank, ein Ersatz nicht da. Um 13 Uhr hätte die Patientin sich vorstellen sollen, um 10.30 Uhr fand Ehemann Luigi sie zu Hause auf dem Boden liegend vor, jegliche Wiederbelebungsversuche waren vergeblich. Tage zuvor noch hatte Mirella in sozialen Medien geschrieben, sie fühle sich »wie eine Nichtigkeit behandelt«.

Fühlt man sich in Italien krank, führt der erste Weg zum Basisarzt. Der stellt die Erstdiagnose und überweist den Patienten an Spezialisten sowie zur Labordiagnostik. Eigene Labors - wie in deutschen Praxen üblich - existieren nicht. Die diagnostischen Abteilungen sind an örtliche Kliniken angegliedert, die Terminvergabe erfolgt über die zentrale Anmeldung. Auf eine Blutuntersuchung muss man mehrere Wochen warten. Termine für Spezialdiagnostiken wie Röntgen, CT oder MRT liegen in der Regel in noch weiterer Ferne. Die durchschnittliche Wartezeit für eine Mammografie beträgt 13 Monate, auf eine Koloskopie muss man ein Jahr warten. Ähnlich lange warten die Patienten auf Vorstellungen bei Fachärzten. Einen Termin beim Augenarzt erhält man selten vor Ablauf eines halben Jahres. Auch Untersuchungen bei Krebsverdacht kann man frühestens nach zwölf Monaten bekommen, ähnlich verhält es sich in der Neurologie und allgemeinen Chirurgie.

Zudem ist die medizinische Versorgung auch regional deutlich unterschiedlich. In den reicheren Regionen des Nordens sind die Wartzeiten kürzer als im Zentrum oder dem armen Mezzogiorno. In der Folge holen Verwandte ihre kranken Angehörigen in Regionen, in denen eine bessere Versorgung angeboten wird. Alternativ reisen Patienten auch zu von ihrem Wohnort entfernten Krankenhäusern und fordern dort ärztliche Versorgung an. Die ihnen auch gewährt werden muss, andernfalls macht sich die Einrichtung der unterlassenen Hilfeleistung schuldig.

Ähnlich funktioniert auch die Soforteinweisung in ärztliche Notfallstationen. Die Wartesäle der »Pronto Soccorso« (Erste Hilfe) sind überfüllt mit Patienten, die dann auf eine sofortige Diagnostik hoffen. Die Ärzteschaft in diesen Einrichtungen ist meist überfordert. Und in Fällen, bei denen echte Notfälle eingeliefert werden, droht das System zu kollabieren.

Statistiken zeigen, dass sich die Lage im vergangenen Jahr noch weiter verschlechtert hat. Die Zahl der Unzufriedenen mit dem Gesundheitswesen stieg 2017 nach Angaben von Transparency International und Censis von 21,3 Prozent 2016 auf 32,2 Prozent. Glück hat, wer Diagnostik und Visiten aus eigener Tasche bezahlen kann. Dann sind Termine binnen einer Woche zu haben. Sarkastisch gesagt: Wer Geld besitzt, hat eine höhere Überlebenschance.

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