Landgewinne im Krieg nach Innen

Die Repression gegen Kriegsgegner radikalisiert sich in einem Tempo, wie es das nicht einmal unter den Militärregimen gegeben hat, meint Yücel Özdemir

  • Yücel Özdemir
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor zwei Wochen habe ich an dieser Stelle geschrieben, dass durch die »Operation Olivenzweig«, also durch den Krieg gegen Afrin, sich auch die Lage der Opposition in der Türkei verschlechtern wird. Tatsächlich hat sich seit Ausbruch des Krieges am 20. Januar - und vor dem Hintergrund, dass wegen des Ausnahmezustandes (OHAL) die Grundrechte im Land ausgehebelt sind - der Druck auf diejenigen, die sich gegen Erdoğan stellen, verschärft.

In diesen drei Wochen hieß es immer, in ein paar Tagen werde Afrin eingenommen sein. Allerdings konnten die türkische Armee und ihre Verbündeten sich ihrem Ziel bis heute nicht nähern. Und die Chancen eines Erfolges nehmen mit fortschreitender Zeit ab. Deshalb wird nicht damit gerechnet, dass Erdoğan in diesem Krieg nach außen kurzfristig Land gewinnen wird.

Doch beim Krieg im Inneren wurde bereits viel Land gewonnen. Erdoğan fügte dem Bündnis, das er über das gemeinsame kurdische Feindbild für diesen Krieg zu schmieden im Stande war, neue Partner hinzu. Vor einer Woche erklärte die Vorsitzende der nationalistischen IYI Partei, Meral Akşener, die in den vergangenen Monaten auch als »die Frau, die an Erdoğans Thron sägt«, bezeichnet wurde, dass der Krieg nicht auf Afrin beschränkt bleiben solle und beteuerte dem Staatspräsidenten uneingeschränkte Rückendeckung. Auch Atatürks Partei, die CHP, hat ihre Position beibehalten und unterstützt weiterhin den Krieg. Kemal Kılıçdaroğlu wurde am vergangenen Wochenende auf dem CHP-Kongress als Vorsitzender wiedergewählt. Das bedeutet, dass sich kurzfristig an der Ausrichtung der Partei nichts ändern wird. Unter diesen Umständen hat sich erneut gezeigt, dass es Kurden, Aleviten, links-sozialistische Parteien und demokratisch orientierte Muslime sind, die Erdoğan die Stirn bieten. Mit allen Mitteln wird versucht, diese Stimmen mundtot zu machen. Die Straßen, Fernsehsender und Zeitungen sind ihnen verschlossen. Die einzig verbliebene Option, die sozialen Medien, wird ebenfalls kriminalisiert. Einer Erklärung des Innenministeriums vom 5. Februar zufolge wurden 449 Personen in Gewahrsam genommen, die den Krieg in sozialen Medien kritisiert hatten. Hinzu kommen 124 Menschen, die ohne Genehmigung auf der Straße protestierten. Insgesamt wurden im Zusammenhang mit der Afrin-Operation 573 Personen direkt in Haft genommen.

Am bemerkenswertesten war die Festnahme von Mitgliedern des Türkischen Ärztebundes (TTB). Die Mediziner, deren Hauptaufgabe darin besteht, Menschen am Leben zu erhalten, wurden von Erdoğan attackiert, weil sie gesagt hatten: »Krieg ist öffentliches Gesundheitsproblem«. Daraufhin wurden die Staatsanwälte mobilisiert, eine Untersuchung gegen die Führungskräfte einer der angesehensten Organisationen der türkischen Zivilgesellschaft wurde eingeleitet. Am 30. Januar wurden Razzien in Arztpraxen, Krankenhäusern und beim TTB durchgeführt und Ärzte in Gewahrsam genommen. Dieser Angriff ist ein Novum in der Geschichte des TTB. Selbst nach den Militärputschen von 1961, 1972 und 1980 gab es keinen derartigen Angriff. Die TTB-Führungskräfte wurden am 5. Februar vorerst unter Auflagen freigelassen. Aber das bedeutet nicht, dass der Druck auf sie damit nachlässt. So forderte Erdoğan öffentlich, dass der TTB »Türkisch« aus seinem Namen streichen solle.

Erdoğans Regime fürchtet sich davor, dass echte Fakten die Bevölkerung beeinflussen könnten. Aus diesem Grund hat sich die Unterdrückung aller oppositionellen Teile der Gesellschaft, vor allem der Intellektuellen, Journalisten, Gewerkschaften und der Parteien, die Frieden fordern, in einem Tempo radikalisiert, wie es das nicht einmal nach den Militärputschen gegeben hat. Doch sie vergessen dabei eines: Fakten sind stur. Und eines Tages werden sie von der Gesellschaft gehört werden.

Aus dem Türkischen von Nelli Tügel

Die längere türkische Textfassung können Sie hier lesen.

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