Vor einem Jahr wurde der »Oberboss« der Cosa Nostra, Bernardo Provenzano, verhaftet. Auch ohne ihn laufen die Mafia-Geschäfte heute auf Hochtouren.
Der 11. April 2006 war ein Glückstag für die italienische Demokratie. Um 11.41 Uhr ging der Polizei der seit 43 Jahren in der Illegalität lebende Boss der Cosa Nostra, Bernardo Provenzano, in die Fänge. Wenige Stunden später war klar, dass auch ein anderer Mann den Chefsessel verlassen muss: Die Regierung Silvio Berlusconis war abgewählt worden. Zwei Ereignisse, die Italien verändern würden, dachte man. Die Hoffnung war, dass mit der Mafia aufgeräumt und das politische System runderneuert würde.
Es waren fromme Wünsche. Ein Jahr später ist die Mitte-Links-Regierung unter Romano Prodi zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie politische Akzente setzen könnte. Und die Cosa Nostra ist alles andere als geschlagen. Zwar setzte ihr die Polizei heftig zu. Nach Auswertung des sichergestellten Postverkehrs des Bosses konnten viele Empfänger der verschlüsselten Briefe enttarnt und verhaftet werden. In einem zweiten großen Schlag gelang im Juni 2006 die Festnahme des Mafia-Triumvirats von Palermo. Doch der mafiose Apparat arbeitet unverdrossen weiter. Ein Anzeichen dafür ist die stetig abnehmende Zahl von Anzeigen wegen Erpressung. »Es ist absurd. Wir nehmen Mafiosi fest. Wir stellen Unterlagen sicher. Einige Mafiosi reden. Wir können rekonstruieren, welche Geschäftsinhaber Monat für Monat erpresst werden. Doch wenn unsere Ermittler die Geschädigten aufsuchen, will niemand gezahlt haben«, klagt der Palermitaner Staatsanwalt Vittorio Teresi.
Zum anderen signalisieren verschiedene Festnahmen, dass die Mafia ungebrochen aktiv ist. Anfang April wurde in Trapani eine Gruppe von Politikern und Geschäftsleuten, darunter Bartolo Pellegrino, ehemaliger Vizepräsident der Region Sizilien, festgenommen. Ihnen wirft die Staatsanwaltschaft vor, im Auftrag des Mafia-Chefs der Region, Matteo Messina Denaro, öffentliche Ausschreibungen verschoben zu haben, darunter auch den Bau der überdimensionierten Seilbahn von Trapani nach Erice. In den Nebrodi-Bergen nordwestlich des Ätna wurde wenige Tage zuvor ein Mafia-Clan ausgehoben, der die Gasversorgung der kleinen Berggemeinden kontrolliert hatte. Der Mafia-Kronzeuge Maurizio di Gati wiederum hatte im März erzählt, wie sich Mafiosi die Ausschreibungen im Universitätsklinikum Catania aufteilen. Bereits im Februar war bekannt geworden, dass in Gela die Müllabfuhr 18 000 Euro Schutzgeld pro Monat zahlt.
»Die Mafia agiert in allen Geschäftsfeldern. Sie ist überall dort zu finden, wo Geld zu machen ist«, konstatiert Teresi sachlich. Dabei kann die Organisation auf gute Kontakte zu Banken zurückgreifen. Der Polizeipräsident von Palermo, Giuseppe Caruso, hatte kürzlich beklagt, dass den vom Staat eingesetzten Managern des enteigneten Mafia-Vermögens von den Finanzinstituten hohe Hürden in den Weg gelegt würden, während den Mafiosi die Türen offen stünden.
Auch ohne Provenzano laufen also die Geschäfte. Derzeit so gut und konfliktfrei, dass auf einen neuen »Oberboss« verzichtet werden kann. Momentan ist jedenfalls noch keiner der »Neffen« - so bezeichneten sich die jüngeren Mafiosi im Briefverkehr mit Provenzano - in die Fußstapfen des »geliebten Onkels« getreten. Drei Kandidaten kommen in Frage, wenn es in Zukunft darum gehen könnte, Gebietsstreitigkeiten zu schlichten oder Großprojekte zu organisieren: Der gegenwärtig unumstrittene Herrscher von Palermos Unterwelt, Salvatore Lo Piccolo, der Boss der westlich gelegenen Region um Trapani, Matteo Messina Denaro, sowie Domenico Raccuglia, der Chef des Gebiets südlich von Palermo in Richtung Corleone. Alle drei werden seit über einem Jahrzehnt gesucht. Eines ist jedoch klar: Die Gesichter an der Spitze der Mafia können wechseln, die Organisation indes bleibt.
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