»Die haben uns einfach vergessen hier oben«
Warum Wismar, das nördlichste Dorf Brandenburgs, jetzt nach Mecklenburg-Vorpommern wechseln will
Dass das verrückt ist, denken heute auch die meisten der 205 Einwohner von Wismar und dem dazugehörigen Hansfelde: Verrückt, dass sie ihre Kinder mit dem Bus durch Strasburg an der nächsten Schule vorbei ins 14 Kilometer entfernte Werbelow schicken sollen. Verrückt, dass der Ärztliche Bereitschaftsdienst nicht mehr aus Strasburg oder wenigstens Pasewalk kommen darf, sondern nur noch aus dem 40 Kilometer entfernten Prenzlau.
Am Anfang war der Wasserpreis
»Alles schlimm genug«, sagt der Wismarer Ortsteilbürgermeister Dieter Ludwig. »Doch das mit dem Wasser hat uns jetzt endgültig gereicht.« Anfang des Jahres übernahm der Norduckermärkische Wasser- und Abwasserverband (NUWA) aus Prenzlau die Versorgung von Wismar und Hansfelde. Jeder Haushalt zahlt nun im Schnitt 150 Euro im Jahr mehr als beim vorherigen Versorger, der Strasburger Niederlassung der Gesellschaft für kommunale Umweltdienste (GKU). Das hat für so viel Wut gesorgt, dass 125 der 150 wahlberechtigten Einwohner Petitionen an die Landtage in Potsdam und Schwerin geschickt haben. Sie wollen von Brandenburg nach Mecklenburg-Vorpommern wechseln. Und sie wollen ihren alten Wasserpreis wiederhaben.
Monika Becker ist die Bürgermeisterin der Gemeinde Uckerland, zu der Wismar und Hansfelde seit 2002 gehören. Dass ausgerechnet über ihrem Kopf die Wogen der Entrüstung zusammenschlagen, findet sie ungerecht. Denn den Ärger mit dem Wasser hatten schließlich die Nachbarn in Mecklenburg-Vorpommern angefangen und sie habe doch nur helfen wollen.
»Kurz vor Ostern 2005 rissen die Hilferufe aus Wismar nicht mehr ab«, erzählt Becker. »Die GKU hatte die Entsorgungsverträge für die Sammelgruben am 21. März 2005 überraschend gekündigt. Den Leuten drohten zu den Feiertagen die Klärgruben überzulaufen.« Sie habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, schließlich den NUWA zur Abfuhr der Gruben gewonnen. Die Kosten dafür - rund 20 000 Euro - trug zunächst sogar die Gemeinde. »Die GKU hat unsere Bitte, Wismar und Hansfelde weiter zu versorgen, immer wieder abgelehnt.« Deshalb beschlossen die Gemeindevertreter im Oktober 2006 letztlich den satzungsgemäßen Beitritt der beiden Ortsteile zu dem Brandenburger Zweckverband. Ohne Einwände des Wismarer Ortsbeirates übrigens, betont Monika Becker.
Aber vielleicht war dem Ortsbeirat ebenso wenig wie der Bürgermeisterin klar, was der Beschluss in der Praxis bedeutete: Die Leitung, aus der das Wasser kommt, blieb die gleiche, und die Gruben, aus denen das Abwasser abgepumpt wird, sind es auch. Trotzdem ist das Wasser jetzt teurer. 32 statt 16 Euro monatlich müsse er zahlen, klagt Ortsteilbürgermeister Dieter Ludwig. Auf alle Wismarer hochgerechnet werden laut Ludwig 11 000 Euro Mehrkosten im Jahr zusammenkommen. »Vorher hatte man uns andere Zahlen genannt«, gibt auch Monika Becker etwas zerknirscht zu.
Ein selbst gewähltes Elend
Auslöser des Protestes wurde ausgerechnet die Veranstaltung, auf der den Bürgern die höheren Preise erläutert werden sollten. »Dass das etwas mit dem Solidarprinzip zu tun hat, wollten wir den Leuten erklären«, berichtet Monika Becker. »Weil der NUWA auch Prenzlau versorgt. Wir hatten uns extra einen Rechtsanwalt genommen, der auf einer Einwohnerversammlung in Wismar Anfang Dezember die Zusammenhänge erklären sollte.«
Das aber ging gehörig schief. Und mit der Welle der Empörung kam nun all das hoch, was die Wismarer und Hansfelder an besonderen Belastungen durch ihre Lage hinnehmen müssen. Dumm daran nur: Die Menschen selbst hatten sich 1992 per Bürgerentscheid für Brandenburg und damit für ihre Abgeschnittenheit entschieden. Warum? Gerd Haupt vom örtlichen Heimatverein erklärt das so: »Die Wismarer waren damals einfach zu schnell.« Als ein Bürgerentscheid in Strasburg damals für Brandenburg ausgegangen sei, hätten die Wismarer beschlossen, auch nach Brandenburg zu gehen. »Aber der Entscheid wurde für ungültig erklärt, Strasburg kam zu Mecklenburg«, sagt Gerd Haupt. So sei Wismar in diese missliche Lage gekommen.
Gerd Haupt versuchte wegen der Wassersache sogar, den Minister anzurufen. Aber bis »da oben« käme man ja nie durch. Und in der Verwaltung weiter unten sage man immer, man habe Verständnis, könne aber nichts ändern. »Als bei uns eingebrochen wurde zum Beispiel«, sagt Gerd Haupt, »habe ich 110 gewählt und bin bei der Polizei in Pasewalk gelandet. Der Polizist war zwar nett, aber nicht zuständig.«
»Die haben uns einfach vergessen hier oben«, schimpft auch Norbert Koch aus Hansfelde, dem allernördlichsten Zipfel Brandenburgs. Hansfelde ist bloß durch einen Plattenweg mit Wismar verbunden. Eine richtige Straße gibt es nur nach Mecklenburg-Vorpommern. Dort, wo der Plattenweg in diese Straße einmündet, hat Norbert Koch sein Häuschen. Fast drohend erhebt sich daneben der marode Giebel eines verfallenden Wirtschaftsgebäudes, wovon Hansfelde viele hat. Erst auf dem letzten Stück Dorfstraße ganz im Norden gibt es wieder bewohnte Häuser. Er gehöre zu den Initiatoren der Protestbewegung, sagt Norbert Koch. Wegen des Wassers. Sein Nachbar mit der Bierflasche in der Hand stimmt zu. Teurer - und dabei sei das Wasser auch noch so schlecht, »nich mal Kaffee kochen kann man damit«.
Der Volkszorn bahnt sich auch hier seinen Lauf. Unterdessen sammelt der Petitionsausschuss des Brandenburger Landtages Stellungnahmen der Verwaltung ein. Uckermark-Landrat Klemens Schmitz bot den Einwohnern »persönliche Gespräche« an, und Bürgermeisterin Monika Becker erstickt in Anfragen von allen Seiten. Gerade war sie beim Landrat zum Krisengespräch. Jetzt ruft das Bildungsministerium an. Wie das nun sei mit den Schülern. Ja, 21 schulpflichtige Kinder gebe es in Wismar und Hansfelde, aber nur zwei von ihnen besuchen die Grundschule der Gemeinde Uckerland in Werbelow, 19 gehen auf Mecklenburger Schulen. Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder ohne Zustimmung des Brandenburger Schulamtes nach Mecklenburg, sagt Monika Becker. Die Kosten - bis zu 400 Euro im Jahr - müssen sie dann selbst tragen. Ein Gastschülerabkommen mit Mecklenburg-Vorpommern gebe es nicht. Die Gemeinde dürfe die Schulkosten deshalb nur in besonderen Einzelfällen erstatten. Zumindest für die Grundschüler wäre ein Schulbesuch in Werbelow kein Problem: »Sie werden mit dem Taxi zu Hause abgeholt und bis vor die Schultür gefahren. Und die Schule haben wir gerade für 250 000 Euro saniert«, sagt Becker.
Überhaupt: Es sei nicht sehr fair zu sagen, man habe Wismar vergessen. Geld für Feuerwehr und das Gemeinschaftshaus habe es gegeben, auch drei Gemeindevertretersitzungen im letzten Jahr fanden dort statt. Nur: Einwohner sind nicht dahin gekommen.
Und wenn man ihr jetzt auch noch die angekündigte Schließung der Wismarer Kita vorhalte, müsse man auch die Zahlen dazu nennen: »Drei Kinder aus Wismar und zwei Erzieherinnen - das geht nicht mehr.« Man kann die Bürgermeisterin verstehen. Die Eltern der drei Kinder aber werden sich wohl die nächstgelegene Kita suchen - in Mecklenburg.
So leicht geht das nicht
Pech für die Wismarer und Hansfelder: Sie werden aus Brandenburg so leicht nicht wegkommen. Dazu müsste wieder ein Bürger-entscheid her. Aber dem müssten zehn Prozent aller Wahlberechtigten der Gemeinde Uckerland mit 3000 Einwohnern zustimmen. Mehr, als Wismar und Hansfelde überhaupt Einwohner haben. Und so hoffen Dieter Ludwig, Gerd Haupt, Norbert Koch und die anderen wechselwilligen Einwohner nun auf Post aus Potsdam. Oder auf eine gute Nachricht in der Zeitung. Aber selbst da setzen sie inzwischen zwangsläufig auf Mecklenburg-Vorpommern: Die Lokalzeitung von dort ist morgens um sechs im Kasten. Die Zeitung aus Brandenburg kommt erst am Nachmittag.
Bürgermeisterin Monika Becker kämpft weiter um die rund 200 Seelen. Sie hat jetzt auch an die Bundesgesundheitsministerin geschrieben - wegen der Hausbesuchsdienste. Und an die GKU - ob sie nicht die 205 Wismarer und Hansfelder wieder versorgen würde, auch wenn sie Brandenburger bleiben.
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