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Europa droht der Gesichts-Verlust
Spitzenkandidaten und Parlamentsmitsprache waren bei der letzen EU-Wahl ein Novum. Das könnte sich wieder ändern
Jean-Claude Juncker ist ein Mann der großen Pläne. Mit Themen wie Energieunion oder digitaler Binnenmarkt wollte der EU-Kommissionspräsident bei seinem Amtsantritt im Herbst 2014 die Gemeinschaft zukunftsfähig machen. Zwei Jahre später sollte ein Milliardenprogramm die Wirtschaft im Staatenbund ankurbeln. Eine »soziale Säule«, ebenfalls von Juncker initiiert, hätte dies ergänzen sollen. Und von seiner Quotenregelung, die nach Europa Geflüchtete gerechter auf die 28 Mitgliedsländer verteilt, erhoffte sich der frühere Luxemburger Premier eine Lösung der »Migrationskrise«. Nur leider scheiterte Juncker zumeist an der schnöden Realität in der EU. Die Modernisierungs- und Wirtschaftspläne gerieten angesichts der Erosion der Gemeinschaft (Brexit!) und überbordender nationaler Interessen ins Hintertreffen; die Flüchtlingsverteilung kommt wegen der Blockadehaltung insbesondere der osteuropäischen Staaten nicht voran, und auch die »soziale Säule« erwies sich eher als Symbolik.
Nicht anders könnte es dem jüngsten Vorstoß des 63-Jährigen ergehen. Mitte Februar hatte Juncker vorgeschlagen, die sogenannten Europäischen Institutionen gründlich umzukrempeln. Wohl auch aus der Erfahrung heraus, dass die Regierungen der EU-Kommission und deren Präsidenten schnell Knüppel zwischen die Beine werfen, sollte »Brüssel« zu stark die nationale Souveränität beschneiden wollen. Künftig sollten Europaparlament und Rat - das Gremium der Regierungsvertreter, das nach wie vor das letzte Wort bei europäischen Entscheidungen hat - gleichberechtigt am EU-Gesetzgebungsverfahren beteiligt sein. Zudem sprach sich Juncker dafür aus, dass auch bei der kommenden Europawahl im Frühjahr 2019 die europäischen Parteienfamilien abermals mit Spitzenkandidaten antreten, aus denen dann der Kommissionspräsident hervorgeht. Die entsprechende Regelung besagt, dass zwar nach wie vor der Europäische Rat, die Runde der europäischen Staats- und Regierungschefs, den Kommissionsvorsitz vorschlagen darf. Allerdings soll er dabei den Ausgang der Europawahl berücksichtigen, und das EU-Parlament muss letztlich dem Vorschlag zustimmen. 2014 hatte es ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Juncker als Vertreter der Konservativen (Europäische Volkspartei, EVP) und Martin Schulz für die europäische Sozialdemokratie gegeben.
Unter einer Europäischen politischen Partei, auch als Europapartei oder Parteienfamilie bezeichnet, ist eine Partei oder ein Bündnis politischer Parteien zu verstehen, das länderübergreifend organisiert und auf EU-Ebene aktiv ist. Die heute existierenden Europaparteien sind überwiegend Bündnisse nationaler Parteien mit ähnlicher Ausrichtung. Die EU-Parteien werden mit Mitteln aus dem EU-Haushalt bezuschusst, die u.a. für Sitzungen und Repräsentationskosten, Ausgaben für Veröffentlichungen, Verwaltungs- und Personalkosten sowie für Kampagnen zur Europawahl genutzt werden können. Derzeit sind zwölf Parteien bei der zuständigen Behörde für europäische politische Parteien und europäische politische Stiftungen registriert:
Europäische Volkspartei (EVP), konservativ
Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), sozialdemokratisch
Allianz der Konservativen und Reformer in Europa (ACRE), europakritisch-konservativ
Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), liberal
Europäische Grüne Partei (EGP), grün
Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit (MENL), rechts, euroskeptisch
Partei der Europäischen Linken (EL), links, sozialistisch
Europäische Freie Allianz (EFA), regional ausgerichtet
Europäische Demokratische Partei (EDP), zentristisch
Europäische Christliche Politische Bewegung (ECPM), christlich-konservativ
Allianz der Europäischen nationalen Bewegungen (AENM), rechtsradikal
Allianz für Frieden und Freiheit (APF), rechtsradikal. nd
Daran, dass es demnächst ein Zwei-Kammern-System geben wird, glaubt Juncker selbst nicht. »Ich bin kein Träumer«, erklärte er bei der Vorstellung seiner Ideen. Anders könnte es jedoch bei der Frage der Spitzenkandidaten aussehen. Der Europäische Rat will sich am Freitag mit dem Wahlverfahren beschäftigen. Dabei hat Juncker, der bereits im vergangenen Jahr den Verzicht auf eine zweite Amtszeit ankündigte, gute Argumente. Die EU-Parteien hatten bei der letzten Wahl ihre Programme »mit einem Gesicht verknüpft«, wie es hieß. Damit sollte nicht zuletzt das Desinteresse an Wahlen allgemein und jenes an der Abstimmung zum Europaparlament im besonderen abgebaut werden. Geholfen hat es bei der Wahlbeteiligung zwar nicht, der Wert stieg europaweit von 43 Prozent (2009) auf gerade einmal 43,09 im Jahr 2014. Aber immerhin wurden die »euopäischen Bürgerinnen und Bürger« für länderübergreifende Themen sensibilisiert; »Europa« wurde sichtbarer.
Hinter das Verfahren von 2014 zurückzufallen, mit dem laut offiziellen Erklärungen auch europäische Entscheidungsprozesse transparenter und demokratischer werden sollten, wäre nach Ansicht der EU-Abgeordneten ein Unding. »Dieses Konzept ist aus unserer Sicht unumkehrbar«, verkündete EVP-Fraktionschef Manfred Weber die Meinung der Parlamentsmehrheit nach einer Abstimmung Anfang des Monats. Allerdings ist die Meinung im Europäischen Rat, der letztlich auch über das Wahlverfahren befindet, durchaus nicht einheitlich. Die immer dominanter auftretenden osteuropäischen Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) haben bereits signalisiert, dass sie »kein Interesse« daran haben, das Europaparlament bei der Wahl des Kommissionsvorsitzes mitsprechen zu lassen. Offiziell, weil sie die nationalen Entscheidungsgremien nicht beschneiden wollen; inoffiziell, weil gerade das EU-Parlament sie für ihre Flüchtlingspolitik immer wieder gerügt hatte.
Der einflussreichste Widersacher der Spitzenkandidaten-Variante sitzt jedoch in Frankreich - Emmanuel Macron. Mit seiner Bewegung »En Marche !«, die das traditionelle Parteienschema durcheinander wirbelte, hatte er im Mai 2017 die französischen Präsidentschaftswahlen gewonnen. Einer politischen Parteienfamilie lässt sich »En Marche !« nur schwer zuordnen - ihre Positionen reichen von sozialliberal bis streng konservativ. Daher mag sich Macron nirgends einreihen - und schon gar nicht einer Gruppierung sein Gesicht geben. Nur: An Personen, die über den nationalen Dunstkreis hinaus bekannt sind, mangelt es sowohl Konservativen wie Sozialdemokraten.
Aber nicht nur ihnen. Auch die Linke kann keine Spitzenkandidaten aus der Tasche zaubern. 2014 war die Europäische Linkspartei (EL) mit dem SYRIZA-Vorsitzenden und heutigen griechischen Regierungschef Alexis Tsipras an der Spitze ins Rennen gegangen. Dass er nicht gewinnen würde, war klar. Aber immerhin holten die EL und Tsipras 6,92 Prozent - ein Zuwachs von über zwei Punkten gegenüber 2009 und drei Zehntel mehr als die europäischen Grünen. Für künftige Wahlen dürfte der Grieche jedoch ausfallen, seine Umfragewerte und Reputation sind im freien Fall - eine späte Rache der EU-Gremien, deren Sparvorgaben, wenn auch mit Brüssel abgerungenen Zugeständnissen - er umsetzen musste. Dafür gingen nun selbst einige der früher engsten Verbündeten auf Distanz. Die griechische SYRIZA solle wegen ihres Kurses aus der EL ausgeschlossen werden, forderte die französische Linkspartei Parti de Gauche (PG) Ende Januar. Hinter der Attacke vermutete die Pariser Linkszeitung »L‘Humanité« den Politiker Jean-Luc Mélenchon, der neben Gregor Gysi (EL-Präsident), Gabi Zimmer (Fraktionschefin der Linken im EU-Parlament) und Alexis Tsipras zu jenen PolitikerInnen gehört, die auch über ihre Ländergrenzen hinweg bekannt sind. Mélenchon werden Ambitionen auf Spitzenpositionen in Europas Linker nachgesagt. Die Richtung Athen abgefeuerte Breitseite dürfte dabei nicht hilfreich sein.
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