»Ich hab’ ein glühend Messer in meiner Brust«

In der Philharmonie spielte das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Sebastian Weigle Werke von Gustav Mahler und Hans Rott

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Wer behauptet, die Berliner Klangkörper brächten immer dasselbe, mit geringen Abweichungen, und außerdem fast nur Altes, liegt weder falsch noch richtig. Tausend Eitelkeiten kennt der Betrieb, das Starwesen ist noch eines wie zu Wagners Zeiten. Die Gagen der Dirigenten und Solisten klettern ins Uferlose. Was taugt, bestimmt häufig die Besucherquote, und Programme folgen eher den Bedürfnissen der Tourismusbranche als den Qualitätsansprüchen von ernst zu nehmender Musik und deren Wiedergabe. Gleichzeitig sind Orchester wie die Philharmoniker, das Runfunk-Sinfonieorchester (RSB) oder das Deutsche Symphonie-Orchster (DSO) und Chöre wie der RIAS-Kammerchor oder der Rundfunkchor Berlin dauerhaft bestrebt, für ihre Spielzeiten je eigene Profile herauszuarbeiten und darüber Verfestigungen aufzubrechen.

Zentrale Werke der Wiener Klassiker kehren freilich immer wieder, glücklicherweise in diesen verdammt kulturfeindlichen Zeiten. Seltener solche der Moderne und der allerjüngsten Musik, die den großen Konzertsaal schon weitgehend abgeschrieben hat - und der sie im Übrigen auch. Ihre Macher suchen sich ihre eigenen Nischen und finden sie im regen Berliner Neue-Musik-Betrieb. Der repräsentative Bereich indes scheint fast am Ende seiner Möglichkeiten. Das Publikum ist überaltert. Die billigen Cross-Over-Mixturen langweilen. Der gute Ruf bürgerlicher »Hochkultur« des Musikfests Berlin leidet immer mehr unter Engpässen der Finanzierung.

Zu loben bleibt immer noch die schlichte Form, Bekanntes mit Unbekanntem in Beziehung zu setzen. Das jüngste RSB-Konzert widmete sich ihr in der Philharmonie zum wiederholten Male und schuf ein schönes Beispiel. Gustav Mahlers »Lieder eines fahrenden Gesellen« korrelierten mit Hans Rotts 1. Symphonie, der keine weiteren mehr folgen sollten, da der junge Komponist schon 1884 starb. Zu einer Zeit, als Mahler noch im Begriff war, sich als Komponist und Dirigent durchzusetzen.

Was einte die beiden österreichischen Komponisten? Sie kannten einander zwar, aber es gibt darüber nur sekundäre Zeugnisse. Mahler soll Rotts Begabung überaus geschätzt haben, auch Bruckner, bei dem der junge Mann Orgelunterricht nahm. Allein Brahms ließ die Frühe seines hohen Könnens nicht an sich heran und kritisierte abfällig Rotts erste große Arbeit, jene Sinfonie nämlich, deren Ausmaße den Mahler’schen in nichts nachstanden. Was den jungen Musiker und Tonschöpfer zutiefst verunsicherte, ja ins Herz traf. Vielleicht sei der Hochsensible darüber gar irre geworden und gestorben, meinte Bruckner am Grabe seines Schülers sagen zu müssen.

Im Herbst 1880 jedenfalls, so ist zu lesen, besteigt der Jüngling in Wien einen Zug, um zu seiner widerwillig angenommenen Festanstellung als Chorleiter im elsässischen Mühlhausen zu reisen. Dort kommt es zur Katastrophe. Rott zieht aus nichtigem Grund den Revolver, weil ein Mitreisender rauchen wollte. Brahms habe den Zug mit Dynamit vermint, begründet er später sein Handeln. Die Polizei bringt den Verwirrten nach Wien zurück und lässt ihn in eine Irrenanstalt einweisen. Dort unternimmt der Insasse mehrere Selbstmordversuche. Schließlich verstirbt Hans Rott am 25. Juni 1884 als 26-Jähriger an Tuberkulose.

Die Entstehung seiner viersätzigen Symphonie Nr. 1 E-Dur fällt in die Zeit seines Studienabschlusses im Fach Komposition. Mit ihr sollte seine Karriere als freier Komponist starten. Rott war Wagnerianer, er gehörte auch dem Wiener Akademischen Wagner-Verein an. Diese Begeisterung schlägt vor allem in Teilen der Ecksätze seiner Symphonie zu Buche. Das RSB hat das Werk wohl erstmals musiziert. Die Wiedergabe unter Sebastian Weigle gelang vorzüglich.

Als wirklicher Wurf entpuppte sich der divergierende Abschnitte aufreihende dritte Satz. Er hebt an mit einer Festmusik, geht sodann über in einen lang anhaltenden, des Öfteren unterbrochenen Walzer, den umzusetzen die Spieler sichtlich Spaß hatten. Wie bei Mahler streifen auch Melodien einheimischer Volksmusik durch die Faktur. Der ganze Satz ist als Scherzo angelegt. Burleske Elemente geben darin den Ton vor. Eine der irren Tempobeschleunigungen führt unmittelbar zurück zum Walzer, den zu musizieren diesmal den Streichern anvertraut ist. Die scheuen sich nicht, auch Peitschenklänge auszusenden. Das hörte sich enorm avantgardistisch an.

Die vier Hörner haben wie bei Mahler ihre markanten, in die Klüfte und Echos der Gebirge weisenden Partien. Der Finalsatz beginnt mit einem Fugenthema und einem Choral. Polyphone Satzgebilde, erstaunlich gekonnt komponiert, werden darin immer vernehmlicher. Vor allem dem Ensemble der Holzbläser obliegen hier interessante Aufgaben. Der Satz endet nicht, bevor der Orchesterzauber Wagners den Charakter eines Sonnenuntergangs angenommen hat.

Vorweg kamen Mahlers »Lieder eines fahrenden Gesellen« zu Gehör. Man kann diese traurigen, stillen, auch aufbegehrenden Orchesterlieder immer wieder hören. Zahlreiche Sänger haben sich damit ihre Sporen verdient. Auch der junge Björn Bürger mit seinem famosen, ausdrucksstarken Bariton. Bürgers Stimme eignet sich eminent für die Wiedergabe der Mahler-Lieder. Jäh auffahrend: »Ich hab’ ein glühend Messer in meiner Brust.«

Das Lied schlägt Linien zum Schicksal des unglücklichen Hans Rott. Passend das laut dreinfahrende »O weh! O weh!« mit den nachfolgenden Zeilen »Ich wollt’, ich läg’ auf der schwarzen Bahr,/ könnt nimmer die Augen aufmachen«, worauf ein Orchesternachspiel in dunkelste Tiefen taucht.

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