Stilles Gedenken und lauter Appell

Jüdische Gemeinde und Gedenkstätten-Stiftung erinnerten an »Fabrikaktion« vor 75 Jahren

  • Jérôme Lombard
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin hat zusammen mit der Ständigen Konferenz der Leiter der NS-Gedenkorte am Dienstagnachmittag an die Verhaftung Tausender jüdischer Zwangsarbeiter und die anschließenden Proteste ihrer Ehefrauen im Februar 1943 in Berlin erinnert. Die sogenannte »Fabrikaktion« jährte sich in diesem Jahr zum 75. Mal.

Beim stillen Gedenken am Mahnmal für die Deportierten in der Großen Hamburger Straße sprach Rabbiner Jonah Sievers von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin das traditionelle Totengebet Kaddisch. Im Anschluss führte ein Schweigemarsch zur Gedenkskulptur von Ingeborg Hunzinger in der Rosenstraße in Mitte, unweit des Alexanderplatzes. Rund 200 Menschen beteiligten sich bei eisigen Temperaturen an dem Gedenkzug.

In seiner Rede bezeichnete Uwe Neumärker, Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, den Frauenprotest in der Rosenstraße als einen »Akt des Mutes«.

»Die hier vor nunmehr 75 Jahren gezeigte Zivilcourage soll uns auch heute darin bestärken, unsere Demokratie gegen jedwede Ausgrenzung von Minderheiten zu verteidigen«, sagte Neumärker. Das Gedenken an die nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen müsse auch in Zukunft ein wesentlicher Teil der bundesrepublikanischen Staatsräson bleiben, forderte der Historiker.

In der ehemaligen Sozialverwaltung der Jüdischen Gemeinde in der Rosenstraße hatten die Nationalsozialisten am 27. Februar 1943 ein Sammellager für jüdische Zwangsarbeiter eingerichtet, um sie in das Vernichtungslager Auschwitz zu deportieren. Tagelang protestierten die nicht jüdischen Ehefrauen der Verhafteten vor dem Gebäude für die Freilassung ihrer Männer.

Die Protestaktion der Frauen hatte Erfolg: Die Mehrheit der in sogenannter Mischehe lebenden Männer blieb zunächst von der Deportation und damit dem sicheren Tod verschont. Allerdings mussten sie weiterhin Zwangsarbeit in Berliner Unternehmen leisten.

»Die Frauen der Rosenstraße haben mit ihrem Engagement bewiesen, dass Widerstand gegen das NS-Regime möglich war«, sagte Mario Offenberg von der Israelitischen Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel Berlin in seiner Ansprache. Auf der anderen Seite würde die Protestaktion aber auch verdeutlichen, wie gering der Widerstand gegen den Nationalsozialismus gesamtgesellschaftlich gewesen sei.

Auch Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (LINKE) würdigte die Frauen der Rosenstraße als »überaus engagierte und mutige Menschen«. Die Politikerin appellierte zugleich an die Gesellschaft, sich für ein würdiges Gedenken an die Opfer des NS-Regimes einzusetzen und antidemokratische Tendenzen nicht unwidersprochen zu lassen.

»Unsere Erinnerungskultur wird zunehmend attackiert. Insbesondere von einer Partei, die seit dem letzten September Sitz und Stimme im Bundestag hat«, sagte Pau mit Blick auf die AfD. Weite Teile der rechtspopulistischen Partei würden die Relativierung der NS-Verbrechen mittragen und nationalistische Vorurteile schüren. »Wir müssen uns dem zunehmenden Hass und der Gewalt in unserer Gesellschaft entschieden entgegenstellen«, forderte Pau.

Im Anschluss an die Gedenkveranstaltung lud das nahe gelegene Instituto Cervantes Schüler der 10. Klasse des Tiergarten-Gymnasiums und Interessierte zu einem Zeitzeugengespräch mit Franz und Petra Michalski ein. Der 74-jährige in Görlitz geborene Franz Michalski überlebte die Schoah zusammen mit seiner Familie. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1939 in Polen floh die Familie aus Breslau nach Berlin. Während des Krieges überlebte die Familie auf der Flucht in wechselnden Verstecken. Franz‘ katholischer Vater Herbert ließ sich trotz des Drucks der Nationalsozialisten nicht von seiner jüdischen Frau Lilli scheiden.

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