König Onkelchen

Claus Peymann inszenierte am Schauspiel Stuttgart Shakespeares »König Lear«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 7 Min.
Der alte König ist heiter. Ist freigiebig: Er lässt zwar die Macht los, aber nicht davon ab, Zentralgestirn zu sein. Der König will Dankbarkeit. Der König traut seinen Augen und Ohren nicht: Er wird abserviert. Der König wütet. Wird verstoßen. Der König friert, grübelt sich heiß. Der König wird wahnsinnig, er wird Kind. Der König stirbt, als werde er neu geboren.

»König Lear« von William Shakespeare am Schauspiel Stuttgart. Inszeniert von Claus Peymann, der hier vor über vierzig Jahren eine Ära begründete. Damals: Sturm und Drang in Stammheim-Nähe. Stets hat er Dampf gemacht, längst sind es die erlittenen Dämpfer, die sein Theater machen. Ein alter Dampfgefährte, Martin Schwab, gibt die Titelrolle. Gibt alles her, was sein Spiel stets prägte: Sanftheitsschrecken und Schreckenssanftheit, knarzige Anrührung und leise Dämonie hinter mehreren Dämmschichten. Die Dämonie dieses Lear ist seine Unlust, die alten Lebenslichter zu dimmen - das letzte Leuchten wird die Demenz sein.

Die Bühne von Karl-Ernst Herrmann: leer, gefasst in einen Neonlichtrahmen. Schwingende Glastüren: Das Märchen hat moderne Ausgänge, der Ausgang des Ganzen aber bleibt die ewig alte Mär: »Lear« ist ein Stück für alle Zeiten. In denen keiner weiterweiß, aber alle weitermachen - Verzweiflung ist die Wehr des Absurden. An einem Haken in der Bühnenmitte baumelt aufführungslang die Krone, die Lear da hingehängt hat. Das Damoklesblech.

Peymann - wie Dorn und Castorf nunmehr ein intendanzloser Wanderer - betreibt ein Theater, dessen Not auch seine Tugend ist: Es freut sich zum Beispiel an jedem Stück, das Gewitter bietet, so kann es nach Schmerzenslust knattern. In Stuttgart ist diese Illusionsmaschinerie ein Hochgenuss: Beim Sturm auf der Heide besteigt der donnernde Ton gleichsam den Thron; ein grauschwarzes Tuch weht in den Saal hinein - tolle Laut-Malerei unter Blitzen und Schnürregen.

Also Lear, der sein Reich an die drei Töchter verteilt. Er malt einen Kreidekreis auf die Bühne, teilt ihn. Der gefährliche Illusionist, der Gutes stiften will, aber nur Habgier entfesselt. Der Starrsinnige, der nur gütig sein kann, wenn dafür triefender Lobgesang ertönt - und der seine jüngste Tochter Cordelia verstößt, weil die zwar lieben, aber nicht heucheln kann. Am Ende vielfacher Tod: des wahren Friedens gebräuchlicher Preis.

Alles schön direkt, alles direkt schön - Peymann ist eher apokalieblich als apokalyptisch. Er schämt sich seiner alten Schule nicht, er ist ein farbig malender Purist. Keine Überfütterung, aber auch kein Trieb (mehr), etwas sehr unmittelbar mit Bedeutung zu unterlaufen oder zu unterspielen. Als wolle er keiner Sicht vorgreifen. Auch wenn modernes Vokabular herausplatzt: Abschiebung, Staatsfeind, Katastrophen in der Natur, Gutmenschen, auch ist die Rede vom »Terroristen, getarnt als Flüchtling«. Aber vorrangig geht es darum, diese unerhörte Geschichte einfach nur in sich aufzunehmen. Punkt. Mal sehen, was sie mit dir anstellt! Schon das Programmheft bietet keine Interpretationen, nur Fotos und gezeichnete Skizzen, ein paar Texte Peter Handkes, der die Narren-Lieder neu übersetzte, und die letzte, leere Seite enthält rechts unten ein einziges Stück-Zitat: »Nichts.«

Peymann sprengt keinen Rahmen, freilich füllt er ihn. Mit konzentrierter, präzis erzählender Ernsthaftigkeit. Mit sauberem Gemäßigtsein. Zwischen höchstem Sinn und tiefstem Biedersinn. Das hat aber eine erstaunlich würdige Kraft, bietet gut komponierte Spannung. Herausgekitzelt wird der Witz in der Tragödie, und die Lust an der Eindeutigkeit ist hemmungslos: Edmund, der große Fiesling, trägt ein Jäckchen aus Schlangenleder, und der Augengelee des malträtierten Gloster kann nicht eklig genug auf die Bretter klatschen.

Nach der Übersetzung von Wolf von Baudissin schrieb Jutta Ferbers eine neue Fassung - nachdem einer der großen Schriftsteller Deutschlands, Botho Strauß, eine eigene Bearbeitung absagte: zu gewaltig der Respekt vor diesem Kosmos aus Archaik und Urgrund. Welt und Familie in inniglichster Verknotung. Falsche Vaterliebe, rechtschaffene Treue, Gift der Eitelkeit, machtlüsterne Geilheit, verkniffenes Taktieren, stumpfe Brutalität, zittrige Ehrlichkeit - alles ohne Übergänge, weder psychologisch noch gesellschaftlich erschöpfend erklärbar. Und so wenig ist wirklich vorhersehbar - Strauß nennt das die »Plötzlichkeit«, sie machte uns Menschen, uns unausgesetzt Überforderte, gleichsam zu lebenden Geschossen, die durch die Zeiten jagen.

Martin Schwab, im weißen Leinenanzug, als sei er auf dem Weg in Tschechows Melancholien, offenbart zu Beginn einen überdreht-frechen Schwung; und über kurze, harte Phasen eines eher lauernden als lodernden Grimms und einer höchstens momentanen Raserei gerät dieser König dann, unter der Reisig-Krone des Wahnsinnigen, zum staunenden Idioten, der die Welt nicht mehr zu greifen vermag. Weil er sie - begreift. Unterm verstrubbelten Silberhaar ein inneres Beben, das jede zentrumssüchtige Exaltiertheit vermeidet. Als wüchse da ein Andachtsvermögen, das irgendwann bereit ist zum Irrwitzigsten einer Machtgestalt: vor keiner Bescheidenheit mehr Halt zu machen.

So erzählt Peymann das Wunder der Erfahrung: Es stimmt doch gar nicht, dass man das eigene Selbst findet, nein, man stürzt. Man fällt, sich erkennend, in die bodenlose subjektive Galaxie. Dies ist der Schrecken jeder Selbstfindung. Im Sterben sitzt Lear auf dem Erdboden, die tote Cordelia im Schoß; er sitzt ganz unten, als säße er auf dem höchstmöglichen Sockel.

Lea Ruckpaul - aufgeweckt bodenständig, resolut naiv - ist jene verschmähte Tochter Cordelia, die ihren Schmerz in Beherrschtheit zu fassen und ihre Verwirrung in eine praktisch veranlagte Kämpfernatur umzumünzen weiß. Sie spielt auch den Narren des Lear: spitz, kalkulierend sarkastisch - so wie der aufrichtige Geist der verstoßenen Cordelia diesen Lear mehr und mehr belehrend besetzt, so ist der Narr, mit Klappstühlchen als Alternative zum Thron, gleichsam die Verkörperung dieses Geistes. Peter René Lüdicke als Königsdiener Kent: ein Treuer mit bewegender Sparsamkeit - wirkliche Loyalität und Solidarität geschehen fern des Eifers, sich damit allen bemerkbar zu machen. Eine Rothaarperücke her, und schon ist Lüdicke der verbannte Kent inkognito: ein komödiantisch derber Draufhau.

Elmar Roloff als Gloster: jener Graf, der von Lears Gegnern grausam in die Blindheit getrieben wird - und erst dadurch klar sieht. Er hatte seinen Sohn Edgar verjagt, weil er auf die Intrige von dessen Bruder Edmund hereinfiel. Roloff: ein gebeugter Räsoneur über den Niedergang der Zeiten. Lukas T. Sperber als Gloster-Sohn Edgar: Er flieht in die gespielte Umnachtung, erhebt sich fistelnd in den Unter-Stand des Bettlers - Lear wird ihn auf der eiseskalten Heide sehr lange so anblicken, wie man aufs Erweckungserlebnis blickt. Erst in der Wiederbegegnung mit dem blinden Vater findet Sperber zu einer schöner Berührungswärme.

Aus dieser fast vierstündigen Inszenierung spricht ein zwinkernd aufgedrehter Mut Peymanns - für das Bewusstsein, vieles derart hinter sich gebracht zu haben, dass man sich nunmehr nichts mehr vormachen muss. Die Aufführung blickt, als zöge die Welt vorbei und als bestünde wahre menschliche Stärke darin, sie ziehen zu lassen. Im Blauschwarz der Bühnenstimmung also wenig Finsternis oder Geheimnis oder Bedrohung. Eher ein scharfkantiges Basta im Verteilen von Licht und Schatten auf bestimmte Figuren. Jannik Mühlenwegs Edmund: Das Aasige wird ins Publikum geknallt, ohne viel Verständnis für einen Gedemütigten. Regan und Goneril, die zwei anderen Lear-Töchter: Manja Kuhl, Caroline Junghanns - festgelegt als egozentrische Megären.

Trotz des Grauens: vorwiegend Milde. Lear ist der Rentner, der den Kopf angriffslustig vorreckt, die Arme weit nach hinten, als seien sie startbereite Flügel - Pflegern und Rollstuhl entwischt er, als flöhe er Schlimmeres als die Welt: das Altenheim. Doch wenn Schwab verdutztes Stillesein zeigt und ihm die Knie leicht einknicken, wird alles groß und traurig.

»Muss es denn die alte eiserne Beharrung sein, wo schon der Jungen ungebärd’ge Kraft an allen Toren rüttelt?«, so fragt Goethe. Die Altersphase so zahlreicher Künstler kennt diese traurige Arroganz der Annahme, man sei noch immer Fülle - wo man doch eher zur Hülle neigt. Am Ende die Wahrheit: Der Narr nennt seinen König Lear nur »Onkelchen«. Claus Peymann geht ins Herz der Geschichte, geht wohl auch sich selber gern zu Herzen, bekräftigt in Stuttgart seine Denkwürdigkeit: Wir wissen nichts, ehe wir nicht dafür bezahlt haben. Und wessen wir bedürfen, erfahren wir erst, wenn wir die Beraubten sind und also dastehen in Blöße - um endlich an Wert zu gewinnen.

Nächste Vorstellungen: 8. und 16. März

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