Sigmund und Kirke auf der Parkbank
»Molly’s Game« erzählt die Geschichte einer Veranstalterin illegaler Pokerturniere und die einer Frau unter Männern
Die Geschichte ist echt. Doch wen interessiert das schon? Molly Bloom selbst gewiss, und dann vielleicht noch Aristoteles. Wir kommen darauf zurück.
Ursprünglich ist Molly Leistungssportlerin im Freestyle-Ski, aber sie kann aufgrund einer Verletzung die Karriere nicht fortsetzen. Also studiert sie Jura und gerät um 2004 in die High-Stakes-Pokerszene von Los Angeles. Sie gibt das Studium auf, verdient viel Geld, erlernt das Geschäft. Von Konkurrenten verdrängt, macht sie sich selbstständig. 2009 zieht sie um nach New York, wo sie auch in Kontakt mit der Mafia kommt. Verschiedene Spieler häufen bei ihr hohe Schulden an. Weil Molly diese nicht mit Gewalt eintreiben will, löst sie das dadurch entstehende Einnahmenproblem, indem sie Geld aus dem Pott abzweigt. Dadurch macht sie sich strafbar. 2013 wird sie verhaftet, 2014 Buchautorin, 2017 von Aaron Sorkin verfilmt.
Der Stoff ist ideal: eine klassische Aufstieg-und-Fall-Geschichte mit einem Charakter im Zentrum, der in seinem Handeln ein frühes Trauma auszugleichen sucht. Sorkin erzählt sie nicht linear, er rekonstruiert sie. Alles erfährt man aus der Perspektive Molly Blooms (Jessica Chastain), die rückblickend berichtet und kommentiert. Es gibt eigentlich kaum Rückblenden, eher zwei parallele Ereignisstränge: Der eine schildert die Zeit ihrer Anklage und Verteidigung, der andere die Zeit ihrer Karriere als Pokerqueen, begleitet dann von einigen Rückblicken auf Kindheit und Jugend.
Man muss sich wiederholt daran erinnern, dass »Molly’s Game« Sorkins Debüt als Regisseur ist. Denn dieser Neuling ist seit langer Zeit im Geschäft, und nicht bloß irgendwie. Man wird ihn einmal zu den größten Drehbuchschreibern seiner Zeit zählen, in eine Reihe stellen mit Autoren wie Dalton Trumbo und Ben Hecht. Sein unwahrscheinliches Gespür fürs Charakterliche, die Fähigkeiten beim Plotting und - alles andere überragend - die Dialoge besorgen, dass man sein idealistisches Gepräge gern in Kauf nimmt. So entstanden wunderbare Erzählungen wie »The Social Network« (2010) oder »Moneyball« (2011) und eine TV-Produktion wie »The West Wing« (1999-2006), die ich persönlich für die gelungenste, weil rundest-tiefste Fernsehserie überhaupt halte. In dieser Hinsicht fällt auch »Molly’s Game« nicht ab. Dass Sorkin jetzt erstmals Regie führt, klingt nach Midlife Crisis (in diesem Fall einer etwas verspäteten), doch es wäre überhaupt mal zu fragen, wie viel Großes die Menschheit irgendwelchen Lebenskrisen verdankt. Die Gefahr des Spätzünders liegt immer im Bedürfnis, etwas aufholen zu müssen, doch der Film lässt sich solche Ambitioniertheit nicht anmerken. Alles ist ordentlich und gekonnt in Szene gesetzt. Da sind keine hohlen Mätzchen mit der Kamera, keine Eindrucksschinderei, das Bild dient dem Wort. Vielleicht gar zu sehr.
Wir sehen Regie, wie sie im Buche steht, im Drehbuch nämlich. Man kann nur ahnen, welche Gräben Sorkin übersprungen haben muss, um überhaupt dort hinzugelangen. »Dieses Drehbuch«, sagt er, »ist das visuellste, das ich je geschrieben habe, und das ist für mich keine Komfortzone.« Die ohnehin schon mit dialogischer Rede überfrachteten 140 Minuten werden zusätzlich durch einen permanenten Kommentar ihrer Hauptfigur Molly belastet. Das zermürbt bisweilen beim Zuschauen, das allmählich ins bloße Zuhören überzugehen droht. Die entfaltete Diktion führt dazu, dass Bildsprache als eigenständige Mitteilung kaum stattfindet. Zudem serviert der Film auf die Art seine eigene Interpretation, und zwar ununterbrochen, was dem Zuschauer die große Freude des Selbsterschließens nimmt. Sorkin kann nicht unterlassen, alles zu verbalisieren, und wir beginnen zu ahnen, dass ihn in der Vergangenheit manch ein Regisseur gekonnt im Zaum gehalten hatte und solche Begrenzung der Wortgewalt von außen wohl nötig war.
Auch in anderer Hinsicht ist »Molly’s Game« ungeheuer sorkin. Die typische Dramaturgie seiner Filme spinnt sich um genau eine Figur. Es geht nicht um die Erzählung eines komplexen Vorgangs, und auch nicht darum, die Bewegungen eines Kollektivs wie die eines Individuums zu zeigen, was in Sorkins Serien meist der Fall ist. Die Filme nutzen die Handlung, um in die Untiefe eines bestimmten Menschen zu gehen. Das Geschehen ist nicht Zweck, sondern das Mittel zu ergründen, was diesen Menschen bewegt. Oder bewegt hat. Denn Charlie Wilson, Billy Bean, Mark Zuckerberg, Steve Jobs und jetzt Molly Bloom - immer ist der Stoff historisch, hat die Figur eine lebendige Vorlage.
Vielleicht ist die Ergründung einer gegebenen Figur, die bereits Geschichte gemacht hat, interessanter als die einer, die eigens dazu erfunden werden musste. Der Tiefsinn jedenfalls reicht. Molly fühlt sich als zurückgesetztes Geschwisterkind dauerhaft im Beweiszwang. Als ihre Sportkarriere scheitert, sucht sie andere Wege, nach oben zu kommen. Die Übermacht ihres Vaters bestimmt ihre Beziehungen zu Männern, auch denen der Pokerwelt. Als der Anwalt ihr rät, sich als bloß Angestellte der Pokerspieler auszugeben, um vor Gericht die Schuldfähigkeit zu senken, verteidigt Molly, die die Pokerabende begründet und geleitet hat, ihre Souveränität: »Ich lasse nicht zu, dass Sie meine Karriere schlechtmachen.« Die Karriere, von der sie da redet, ist die kriminelle Laufbahn, die man ihr zur Last legt.
Zur komplizierten Rolle passt die Besetzung Jessica Chastains als einer der ganz großen Charakterdarstellerinnen dieses Jahrzehnts. Ihr Geschick bei der Auswahl der Rollen fällt auf, wie auch der Umstand, dass sie erfreulich wenig sexualisiert wird. Schauspielerinnen haben es viel schwerer, unabhängig von ihrem Geschlecht wahrgenommen zu werden. In Filmen wie »Zero Dark Thirty«, »Interstellar«, »The Martian« und »Miss Sloane« spielt Chastain echte Charaktere, die nicht erst mal Frau und dann lange nichts sind, sondern als Individuen genommen werden. Das gilt auch für die Rolle der Molly, trotz der situativ bedingten Abendkleider mit tiefem Ausschnitt.
Bedauerlich ist, dass die Konstruktion der Handlung hier mit der Figurengestaltung nicht ganz mithält. Sorkin, der vor allem in den Serien (von C.J. Cregg (»The West Wing«) bis Sloan Sabbith (»The Newsroom«)) immer wieder große Frauenrollen hat schreiben können, reicht ein bekanntes Hollywood-Muster dar, demzufolge der Mann kommen und regeln muss, was die Frau allein nicht bewältigt. Zwei Männer nämlich flankieren Molly: Der Anwalt Charlie Jaffey (Idris Elba) und ihr Vater Larry Bloom (Kevin Costner). Sie, die sich in der Männerwelt des Pokerspiels bewegt wie Kirke auf der Insel, das viehische Gesindel mit seinem Geld zugleich gefangen und auf Distanz haltend, kommt an entscheidender Stelle nicht weiter. Charlie ist gute zwei Köpfe größer als sie, immer formidabel und beholfen hat er seinen großen und rettenden Auftritt gegenüber der Staatsanwaltschaft (einen Auftritt der Art, wie ihn Chastain in »Miss Sloane« noch selbst spielen durfte).
Und als ob damit dem herkömmlichen Muster nicht hinreichend Genüge getan wäre, knüpft sich ans Ende des Films eine Szene an, in der Papa Larry, praktizierender Analytiker, ihr erklärt, warum sie ist, wie sie ist, und tat, was sie tat. Sigmund und Kirke auf der Parkbank. Statt dass der Film sich darauf verlässt, es zu zeigen, doziert er sich dorthin, wo sein Macher ihn haben will, und Molly wird durch ihre zwei männlichen Mit-und-Gegenspieler einmal praktisch und einmal geistig gestutzt.
Ich weiß gar nicht, wie streng das der Vorlage folgt. Doch wen interessiert das schon, wie gesagt. Ein Spielfilm ist keine Dokumentation, oder wie Aristoteles schreibt: Science erzählt, was passiert ist, Fiction, was passiert sein könnte. Was passiert hätte sein müssen, fügen wir hinzu.
»Molly’s Game«, USA 2017. Regie, Drehbuch: Aaron Sorkin. Darsteller: Jessica Chastain, Idris Elba, Kevin Costner. 140 Min.
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