Miete statt Sparschwein
Haushalte mit geringen Einkommen geben überproportional viel für Wohnen und Essen aus
Die umstrittene Entscheidung der Essener Tafel, vorerst keine Nicht-Deutschen mehr aufzunehmen, hat einen positiven Nebeneffekt: Plötzlich diskutiert die Republik wieder über jene, die vom Aufschwung der letzten Jahre kaum profitierten. Was Sozialverbände und LINKE schon seit Jahren kritisieren, wurde praktisch über Nacht zum Thema auch für die großen Medienhäuser. Plötzlich sind sie wieder im öffentlichen Bewusstsein: die fast zehn Millionen Menschen in Deutschland, die auf Hartz IV, Grundsicherung oder Arbeitslosengeld angewiesen sind. Noch gar nicht erfasst sind dabei die Millionen Niedriglöhner. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt die Zahl der »verdeckt Armen« auf bis zu 4,9 Millionen Betroffene. Sie beantragten aus Unwissen oder Scham keine Sozialleistungen, obwohl sie Anspruch darauf gehabt hätten.
Wie groß das soziale Gefälle in Deutschland bereits ist, zeigen auch die Zahlen, die der Volkswirt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zusammengetragen hat. Brenke analysierte für seine Untersuchung, die am vergangenen Donnerstag im »DIW-Wochenbericht« veröffentlicht wurde, Daten aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Die alle fünf Jahre erhobene Statistik erfasst nicht nur Einkommenssituation der befragten Haushalte, sondern auch deren Konsumausgaben. Brenke hat für seine Studie die Angaben von insgesamt 43 000 Haushalten ausgewertet - mit besonderem Schwerpunkt auf Konsum und Sparquote. Die Ergebnisse lassen sich auf eine Faustformel bringen: Je geringer das Einkommen, desto höher der Ausgabenanteil, den Miete und Lebensmittel verschlingen. Während das ärmste Zehntel rund 57 Prozent des Einkommens allein für Wohnen und Nahrung aufwenden musste, waren es in der obersten Einkommensgruppe nur knapp 20 Prozent.
Wobei die Zahlen, die Brenke verwendet, teilweise nicht mehr aktuell sind. Die letzte EVS wurde 2013 erhoben und dementsprechend »alt« sind die Daten. In der Zwischenzeit hat sich die Lage auf dem Mietmarkt weiter zugespitzt. So kommt Brenke zu dem Ergebnis, dass die Ärmsten 37,6 Prozent ihres Einkommens für die Miete aufbringen mussten. In den Ballungszentren Deutschlands liegt man heute deutlich darüber. In Berlin etwa musste 2016 jede zweite armutsbedrohte Person rund die Hälfte ihres Einkommens an den Vermieter überweisen, wie man im aktuellen Sozialbericht des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg nachlesen kann. Insgesamt lag mehr als jeder zehnte Hauptstädter bereits über der 40-Prozent-Marke. Tendenz weiter steigend.
Ein weiterer Kostenfaktor ist der Strom. So bilanziert Brenke: »Offenbar sind die Möglichkeiten, den Verbrauch an die Höhe des Einkommens anzupassen, stark beschränkt. Entsprechend müssen die Haushalte mit geringem Einkommen einen größeren Teil ihrer gesamten Ausgaben hierfür verwenden als der Durchschnitt.« Demnach mussten die einkommensschwachen Haushalte für Strom sogar mehr ausgeben als für Bekleidung.
Da Menschen mit geringem Einkommen so viel für Wohnen und Ernährung ausgeben, sind sie gezwungen, an anderer Stelle zu sparen. »Neben den relativ geringen Ausgaben für Gaststättenbesuche fällt auf, dass sie nur einen weit unterdurchschnittlichen Anteil ihres Einkommens in Reisen stecken. Je höher die Einkommen sind, desto größer ist der Anteil am Konsum, der in Reisen fließt«, schreibt Brenke. Dass es sich hier nicht um eine kleine Randgruppe handelt, zeigen die Zahlen des Europäischen Statistikamtes »Eurostat«, die die Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann (LINKE) 2017 angefordert hatte. Demnach verfügten rund 20 Prozent der Bundesbürger nicht über die Mittel, um sich einen einwöchigen Urlaub außerhalb der eigenen Stadt oder des eigenen Dorfs zu leisten. Unter den Alleinerziehenden lag die Quote gar bei fast 40 Prozent.
Wer kein Geld für den Urlaub hat, dem fehlen auch die Mittel für Rücklagen. Alleinerziehenden, Arbeitslosen und Alleinstehenden gelingt es oft nicht, Geld beiseite zu legen: »Die einkommensschwächsten Haushalte kommen im Durchschnitt sogar auf eine negative Sparquote - das heißt, dass sie sich verschulden«, so Brenke. Kaum gespart wird in Haushalten, deren Vorstand arbeitslos ist, studiert oder aus anderen Gründen nicht erwerbstätig ist. In diesen Gruppen gibt es auch überdurchschnittlich viele, die Schulden machen. Von den zehn Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkünften war 2013 die Hälfte verschuldet.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.