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Ansage aus der Neuzeit
Bundestrainer Löw sieht dem Testspiel gegen Brasilien gelassen entgegen. Boateng trägt die Kapitänsbinde
Joachim Löw gilt als ziemlich unverdächtig, sich in irgendwelchen Traumwelten zu bewegen. Und zu seiner authentischen Art gehört nun einmal, sich mit allen möglichen Thesen der aufgeregten Fußballbranche seriös auseinanderzusetzen. Etwa als der Bundestrainer im dritten Stock eines Berliner Autohauses am Salzufer wiederholt von weit gereisten Reportern gebeten wurde, den Einfluss des sagenhaften 7:1 im WM-Halbfinale 2014 auf das Freundschaftsspiel an diesem Dienstag zwischen Deutschland und Brasilien (20.45 Uhr) zu beschreiben. »Die Brasilianer haben Revanchegelüste und denken, sie können einiges gut machen. Aber das geht ja nicht: Ein Halbfinale kann man nicht zurückholen«, stellte der 58-Jährige fest.
Die Historie mag die 27. Auflage dieser großen Nationalmannschaften überwölben, aber die Konstellation tauge eben nicht für nachträgliche Geschichtsklärung. Mag das Ereignis beim damaligen Verlierer für ewig nachhallen (»spielt in Brasilien eine viel größere Rolle als in Deutschland«), sei das beim Verlierer »am Morgen fast abgehakt gewesen«, erzählte Löw recht ungeniert. »Der Fokus lag auf dem Finale. Das war das Allerwichtigste.« Und daraus ergibt sich der Unterschied in der Herangehensweise fürs ausverkaufte Olympiastadion: Die Gastgeber können sich Experimente leisten, die Gäste brauchen ein Erfolgserlebnis. »Ihre Motivation wird unermesslich hoch sein«, glaubt nicht nur Löw.
Interessant allemal sein Erklärungsansatz für die Machtverschiebung. »Wenn alles so wie früher wäre, müsste Brasilien immer Weltmeister werden!« Immer noch sei das Reservoir auf dem südamerikanischen Kontinent unermesslich, aber der Fußball verändere sich halt ständig. Unterlegt mit dem gut gemeinten Hinweis: »Auch Deutschland musste sich entwickeln.« Hin zu mehr Kreativität, Offensive oder Spielfreude. Löw schien im Vorlauf durchaus Gefallen daran zu finden, mal wieder den großen Überbau seiner Mannschaft erläutern zu dürfen. Ins Schleudern geriet der Südbadener nur ein einziges Mal: Ob denn bei der brasilianischen Aufwärtsentwicklung der belobigte Kollege Tite schon wieder die besseren Individualisten besitze? Ästhet Löw gönnte sich - selten genug - eine kleine Auszeit (»ähhhmm«), um sich dann ein kräftige Verneinung zu erlauben. Zwar biete der Gegner speziell im Mittelfeld gleichermaßen körperlich robuste wie fußballerisch starke Typen auf, aber seine Individualisten seien bestimmt nicht schlechter. »Wir haben 2014 eine Mannschaft ohne Superstars kreiert. Alle waren auf ihren Positionen stark.« Das Credo hat sich für 2018 nicht verändert.
Wie titeltauglich der aktuelle Kader wirklich ist, soll in Teilen der zweite Anzug beweisen, nachdem der Schonung wegen Thomas Müller und Mesut Özil heimgeschickt wurden. Zudem pausiert der an Patellasehnenproblemen leidende Torwart Marc-André ter Stegen. Bernd Leno und Kevin Trapp betreiben Jobsharing zwischen den Pfosten. Lokalmatador Marvin Plattenhardt darf hinten links verteidigen, die Premier-League-Legionäre Ilkay Gündogan und Leroy Sané sollen ihre Fortschritte unter Pep Guardiola bei Manchester City nun bitte bis ins Nationalteam tragen. »Ich erhoffe mir, dass sie ihre Vorzüge einbringen«, sagte Löw, der bei dem unter leichten muskulären Problemen leidendenden Sami Khedira wohl auch kein Risiko eingehen wird.
In diesem Zusammenhang kündigte der Chef an, dass Jérôme Boateng, intern ohnehin einer der Wortführer, die Kapitänsbinde tragen darf. Eine Belohnung für den kritischen Geist, zumal Löw (»Deutschland kann, muss und wird sich auch noch steigern«) ähnlicher Meinung ist. Der Abwehrmann hatte nach dem allseits sehr positiv gewerteten 1:1 gegen Spanien vor allem die negativen Aspekte herausgestellt. Seine Herangehensweise verteidigte der 29-Jährige gestern in der Rückschau: »Lieber die Sachen klar ansprechen, als wenn man es verstreichen lässt - und wir am Ende uns alle blöd angucken.«
Im letzten Härtetest vor der Nominierung des vorläufigen Kaders für die Weltmeisterschaft am 15. Mai im Dortmunder Fußballmuseum kann die DFB-Auswahl ihre Serie auf 23 Spiele ohne Niederlage ausbauen und damit einen fast vier Jahrzehnte alten Rekord der Ära Jupp Derwall einstellen. »Es ist klar, dass wir gewinnen möchten, aber es bleibt ein Freundschaftsspiel«, sagte Boateng, der dennoch mit einer besonderen Inspiration in die Betonschüssel im Berliner Westend einlaufen wird: »Hier gegen Brasilien zu spielen - davon habe ich als kleines Kind geträumt.«
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