Stückwerk Pflegepolitik

Die Vereinbarungen im schwarz-roten Koalitionsvertrag zur Pflege kranken am Unwillen zur Umverteilung

  • Kalle Kunkel
  • Lesedauer: 8 Min.

Der Pflegenotstand war eines der wenigen sozialen Themen, die es im Bundestagswahlkampf auf die politische Agenda geschafft haben. Der schwarz-rote Koalitionsvertrag zeigt jedoch, dass von einer Stückwerkpolitik auf der Grundlage eines kleinsten gemeinsamen Nenners zwischen CDU und SPD auf diesem Feld keine Lösungen zu erwarten sind.

Die Pflegepolitik steht vor einem hausgemachten Scherbenhaufen. Bereits jetzt können Stellen in den Krankenhäusern und noch dramatischer in der Altenpflege wegen BewerberInnenmangel nicht besetzt werden. Dabei schlägt der demografische Wandel erst in fünf bis zehn Jahren zu. Der Koalitionsvertrag macht jedoch wie im Brennglas die Begrenzungen der neuen Koalition sichtbar. Wenn der Schwerpunkt im Folgenden auf den beruflich Pflegenden liegt, darf nicht vergessen werden, dass ein Großteil der Pflegearbeit derzeit von Angehörigen geleistet wird. Sie sind auch die LückenbüßerInnen für die zunehmenden sozialstaatlichen Versorgungslücken.

Der Autor
Kalle Kunkel ist als Gewerkschaftssekretär im Gesundheitswesen aktiv und hat die Tarifauseinandersetzung um Mindestbesetzungen an der Charité intensiv begleitet.

Altenpflege

In der Altenpflege soll eine Personalbemessung eingeführt werden, das heißt, dass gesetzlich festgelegt wird, wie viel Personal pro Pflegebedürftigem Dienst haben muss. In einem Sofortprogramm sollen zeitnah 8000 Stellen geschaffen werden. Die Zahl stand bereits öffentlich in der Kritik. Denn den 8000 stehen ca. 13 000 pflegerische Einrichtungen gegenüber, was pro Einrichtung rechnerisch ca. 0,6 Stellen ausmacht. Diese rein quantitative Betrachtung verstellt jedoch den Blick auf ein viel grundsätzlicheres Problem: Wie die Arbeitsbelastung im bestehenden System wirkungsvoll reduziert werden soll, um damit tatsächlich die Beschäftigten im Beruf zu halten, dazu bleibt der Koalitionsvertrag nebulös («bessere Gesundheitsvorsorge»). Die Gesundheitspolitiker umschiffen also das zentrale, selbst geschaffene Problem.

Bessere Löhne ...

Nur scheinbar konkret werden die Koalitionäre bei der Frage der Bezahlung. Sie stellen fest, dass eine bessere Bezahlung dringend notwendig ist, um die Attraktivität des Berufs zu erhöhen. Dies soll geschehen, indem die «Bezahlung der Altenpflege nach Tarif» gestärkt werden soll und «Tarifverträge in der Altenpflege flächendeckend zur Anwendung kommen». Es wird jedoch nicht geklärt, welcher Leittarifvertrag zur Anwendung kommen soll, was für das Entgeltniveau eine zentrale Frage ist. Offen bleibt auch, auf welchem Weg der Vertrag für allgemeinverbindlich erklärt werden soll. Die Politik könnte dies weitgehend einseitig umsetzen, sie könnte aber auch auf einen Konsens mit den Arbeitgebern orientieren - mit entsprechenden Konsequenzen für das zu erwartende Niveau der Regelung.

... und die Frage der Kosten

Gerade die Frage der Bezahlung und damit der Kostensteigerung in der Altenpflege macht jedoch ein noch viel grundsätzlicheres Problem deutlich: Die Frage, wie die soziale Infrastruktur in Deutschland solidarisch - und das heißt durch Umverteilung von oben nach unten - finanziert werden kann, wird systematisch ausgeklammert. Denn die Pflegeversicherung übernimmt als Teilversicherung nur einen bestimmten Anteil der Kosten, die durch die Pflege entstehen. Im Klartext: Einen beachtlichen Teil der sogenannten Pflegesätze zahlen die BewohnerInnen oder ihre Angehörigen. Sind diese damit finanziell überfordert, müssen meist die Städte und Kommunen als Sozialhilfeträger einspringen.

Schon seit dem Jahr 2013 wurde die Tarifbindung in der Pflege insofern gestärkt, als zunächst das Bundessozialgericht und später der Gesetzgeber klar stellten, dass Tarifverträge als wirtschaftlich anzusehen sind. Die durch sie entstehenden höheren Kosten müssen daher bei der Aushandlung der Pflegesätze zwischen Leistungserbringern und Pflegekassen anerkannt werden. In der aktuellen Konstruktion der Pflegeversicherung führt jedoch die Anhebung der Pflegesätze vor allem zu höheren Kosten für die Betreuten. Dies führt einerseits zu einem Anreiz für Arbeitgeber, sich Tarifverträgen zu entziehen, um so einen Konkurrenzvorteil zu bewahren. Andererseits bedeutet dies, dass die Interessen der Beschäftigten und der Betreuten durch die Konstruktion der Pflegeversicherung gegeneinander in Stellung gebracht werden. Auf eine breitere Finanzierung der Sozialversicherungssysteme, etwa durch Anhebung der Beitragbemessungsgrenze oder durch Einbeziehung weiterer Einkommensarten, wollte sich die Koalition aber genauso wenig verständigen wie auf einen grundsätzlichen Umbau der Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung, die die kompletten Pflegesätze trägt. Zugleich wurden potentielle Beitragssteigerungen durch das Ziel gedeckelt, die Sozialabgaben «bei unter 40 Prozent (zu) stabilisieren». Im Klartext: Die Kosten für die im Koalitionsvertrag vorgesehenen höheren Löhne für Pflegekräfte werden im schlimmsten Fall die Pflegebedürftigen, ihre Angehörigen sowie die Städte und Kommunen tragen.

Kranken(haus)pflege

In den Krankenhäusern arbeiten im Vergleich zum Ende der 1990er Jahre ca. 35 000 Pflegekräfte weniger. Zugleich ist die Anzahl und der Pflegebedarf der PatientInnen massiv gestiegen. Die Einführung des Fallpauschalensystems DRG vor über zehn Jahren hat weitere Anreize zur Leistungsverdichtung geschaffen. Dadurch wurde für jede Behandlung ein fester Preis festgelegt, statt den Krankenhäusern die realen Kosten zu erstatten. Der Pflegewissenschaftler Michael Simon hat einen zusätzlichen Bedarf von bis zu 100 000 Pflegestellen errechnet. Seit Jahren fordern die Beschäftigten, Gewerkschaften, Berufsverbände und PflegewissenschaftlerInnen eine gesetzliche Personalbemessung, um den konkurrenzgetriebenen Stellenabbau umzukehren.

Die Politik musste - nachdem es durch ver.di auch zu Streiks und Tarifauseinandersetzungen zu dieser Frage gekommen war - dem Druck nachgeben. Sie reagierte jedoch auch hier mit Stückwerkpolitik. 2017 wurde im Hauruckverfahren ein Gesetz verabschiedet, das die Spitzenverbände der Krankenkassen und der Krankenhäuser verpflichtet, Untergrenzen für «pflegesensitive» Bereiche« festzulegen, in denen ein besonders enger Zusammenhang von Personalausstattung und Fehlern bei der Patientenversorgung unterstellt wird, wie etwa auf Intensivstationen. Der Begriff ist erst im Zusammenhang mit der Gesetzgebung geprägt worden, um zu legitimieren, dass nur in ausgewählten Bereichen regulierend eingegriffen werden soll. Das liefe laut einem Gutachten auf etwa 6000 zusätzliche Stellen hinaus. Die Festlegung von Untergrenzen birgt im Unterschied zu einem echten Bemessungsinstrument, das den Personalbedarf an Hand des Pflegeaufwands ermittelt, zudem die Gefahr, dass sie für alle Häuser, die bisher mit ihrem Personaleinsatz oberhalb dieser Grenzen liegen, einen Anreiz schaffen würde, sich diesen Untergrenzen als neuem Standard anzunähern.

Im Koalitionsvertrag wird die Systematik der Untergrenzen nicht in Frage gestellt. Diese sollen nun jedoch für alle bettenführenden Bereiche eingeführt werden. Die Koalitionäre erkennen nun offenbar zumindest an, dass es ein flächendeckendes Problem gibt. Es bleibt jedoch fragwürdig, warum mit den Krankenhäusern und den Krankenkassen ausgerechnet die beiden Akteure über diese Regeln verhandeln sollen, die das geringste Interesse an guten Lösungen haben. Die Politik stielt sich hier aus der Verantwortung, auf der Grundlage der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse Vorgaben zu machen.

Darüber, wie viele Stellen im Krankenhausbereich geschaffen und wie sie finanziert werden sollen, schweigt sich der Koalitionsvertrag gleich ganz aus. Mehrkosten für den Bundeshaushalt sind laut Vertrag nicht vorgesehen. Inzwischen haben sowohl die CDU als auch Krankenkassen und Krankenhäuser deutlich gemacht, dass sie sich mit einer Ausweitung der Untergrenzen über die »pflegesensitiven« Bereiche hinaus Zeit lassen wollen.

Einzig die zukünftige vollständige Finanzierung von Tarifsteigerungen durch die Krankenkassen stellt einen sichtbaren materiellen Fortschritt dar. Bis heute wird angenommen, dass ein Teil der Tarifsteigerungen durch »Produktivitätszuwachs« erwirtschaftet werden könnte - die KollegInnen erkauften sich also jede Lohnerhöhung durch Arbeitsverdichtung.

Die Investitionen

Die Krankenhäuser stehen finanziell auch von Seiten der Bundesländer massiv unter Druck. Diese sind gesetzlich verpflichtet, die notwendigen Investitionen der Häuser zu finanzieren. Weil sie dieser Verpflichtung jedoch nur zur Hälfte nachkommen, werden Gelder der Krankenkassen dafür missbraucht: Personalstellen werden zu Baustellen. Die Länder werden dabei von den eigenen knappen Mitteln und der Schuldenbremse getrieben. Der Koalitionsvertrag stellt lapidar fest, dass »deutlich erhöhte Investitionen« in die Krankenhäuser notwendig seien. Wer diese finanzieren und woher die Mittel kommen sollen - Steuererhöhungen werden ja ausgeschlossen -, darüber schweigt sich der Vertrag aus. In der Übersicht zu den prioritären Ausgaben kommt dieser Punkt nicht vor. Statt also zum Beispiel über eine Vermögensteuer die Wohlhabenden in diesem Land heranzuziehen und die Einnahmeseite der Bundesländer zu verbessern, wird weiterhin die Zweckentfremdung von Krankenkassengeldern in Kauf genommen, die (bald wieder) zur Hälfte von allen abhängig Beschäftigten finanziert werden.

Eine Überraschung

Seit Jahren steht die pauschale Finanzierung der Krankenhäuser durch die DRGs in der Kritik von denen, die ihre Auswirkungen täglich spüren. Im Koalitionsvertrag wird nun angekündigt, dass die Pflegepersonalkosten unabhängig von den DRGs finanziert werden sollen und dass dabei auch »Aufwendungen für den krankenhausindividuellen Pflegepersonalbedarf« berücksichtigt werden sollen. Wie diese abstrakten Formulierungen zu verstehen sind, dürfte in der Koalition noch für reichlich Zündstoff sorgen. Sie erlauben jedoch die positive Interpretation, dass die Politik abrückt von einer pauschalen Vergütung hin zu einer Finanzierung an Hand des realen finanziellen Aufwands des einzelnen Krankenhauses für die Pflege. Damit sich diese Interpretation durchsetzt, ist in den nächsten Jahren noch viel Druck notwendig. Zusätzliche Brisanz bekommt diese Formulierung in Kombination mit der Ankündigung einer Nachweispflicht bei der Refinanzierung der Tarifsteigerungen. Zwar lässt dieser Punkt ebenfalls noch viel Interpretationsspielraum. Es wird damit jedoch erstmals seit Einführung der Fallpauschalen wieder ein Steuerungselement in Aussicht gestellt, das sich eher im Sinne der Selbstkostendeckung verstehen lässt - eine Finanzierungslogik, bei der die Krankenhäuser tatsächlich (nur) ihre realen Kosten erstattet bekommen. Die Delegitimation der Selbstkostendeckung mit dem falschen Argument, sie würde zu Verschwendung und damit unkontrollierbaren Kostensteigerungen führen, war ein entscheidender Baustein für die Durchsetzung eines kommerzialisierten Krankenhauswesens. Die Krankenkassen wettern bereits gegen einen »Meteoriteneinschlag« in das bisherige Finanzierungssystem. Wirklich schlüssig würde eine solche Regelung aber erst mit einer echten Personalbemessung.

Fazit

Der Koalitionsvertrag liest sich in Sachen Pflege wie eine Pflichtarbeit. Es werden alle Fragen angesprochen, jedoch keine Antworten formuliert, die dem Ernst der Lage entsprechen. Wie der gesamte Vertrag kranken auch die Vereinbarungen für diesen zentralen gesellschaftlichen Bereich an dem Unwillen zur Umverteilung - und damit zum gesellschaftlichen Konflikt. Weil die Koalition nicht den Willen hat, sich das Geld bei denen zu holen, die es haben, bleiben die Regelungen entweder Stückwerk oder es droht sogar, dass sinnvolle Vorhaben zu Lasten derjenigen gehen, die auf die Leistungen angewiesen sind.

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