Die im Dunkeln sieht man nicht

Über Menschen, die unter Stromsperren leiden, werden viele Mythen verbreitet

  • Sebastian Haak, Erfurt
  • Lesedauer: 4 Min.

Nicht nur einmal, sagt Ramona Ballod, habe das Sozialamt völlig falsch gelegen. Immer wieder berate sie - die seit dem Jahr 1992 bei der Energieberatung der Thüringer Verbraucherzentrale arbeitet - arme Menschen, denen Ähnliches wiederfahren sei: Dass nämlich die Behörden ihnen vorwerfen, sie würden nicht sparsam mit der Energie umgehen. Der Vorwurf erinnert an einstige Äußerungen des sozialdemokratischen Populisten Thilo Sarrazin. Dieser hatte vor einigen Jahren behauptet, dass Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen seien, die Heizung gerne auf volle Leistung stellen würden und die Temperatur in einem gut geheizten Raum dann durch das Öffnen des Fensters regulieren wollten. Auch Sozialämter würden das immer wieder tun, wenn sie Menschen, die von ihnen betreut werden, erklären, sie würden ihre Energiekosten nur noch bis zu einer gewissen Grenze tragen, sagt Ballod. Weil die von ihnen verursachten Kosten für Energie angeblich zu hoch seien.

Dabei, erzählt Ballod an diesem Tag in Erfurt, treffe das oft gar nicht zu. Die betroffenen Menschen seien in der Regel überhaupt nicht verschwenderisch. Einmal habe sie eine ältere, arme Frau beraten, die sehr auf ihren Energieverbrauch geachtet habe. »Die Frau war sogar sehr sparsam. Sie hat teilweise bei einer Temperatur von 19 Grad im Wohnzimmer rumgesessen«, sagt Ballod. Das sei kaum mehr angemessen. Trotzdem habe ihr das Sozialamt gedroht, die Energiekosten nur noch bis zu einer gewissen Kappungsgrenze zu bezahlen. Jeden Euro, den sie zusätzlich verbrauche, müsse sie selbst tragen. Wobei freilich sofort die Frage im Raum steht: Wovon soll man das eigentlich bezahlen, wenn man von Hartz IV oder von Grundsicherung im Alter lebt?

Energiearmut
Energiearmut trifft viel mehr Menschen als diejenigen, die von Sozialleistungen wie Hartz IV leben – wenn man zum Beispiel eine aus Großbritannien stammende Definition dafür nimmt, auf die der energiepolitische Sprecher der Linksfraktion im Thüringer Landtag, Steffen Harzer, verweist: Danach ist von Energiearmut betroffen, wer mehr als zehn Prozent seines verfügbaren Einkommens für Energie aufwenden muss. Das treffe auf 15 Prozent der Menschen in Deutschland zu. sh

Tatsächlich habe die Frau dann gemeinsam mit der Verbraucherzentrale nachweisen können, dass sie nicht über Gebühr heize - sondern dass das Haus, in dem sie lebte, einfach so schlecht gedämmt war, dass sich hohe Energiekosten nicht vermeiden ließen. Was, sagt Ballod, ein Teufelskreis sei, der gerade arme Menschen immer wieder treffe: Sie wohnten nicht selten in eher alten, schlecht gedämmten Häusern. Da seien die Energiekosten freilich höher als bei Menschen, die in ein gerade saniertes Haus oder gar in ein neu gebautes Niedrigenergiehaus eingezogen seien.

Das ist möglicherweise der zentrale Punkt, um den es kürzlich in den Räumen des Thüringer Landtags ging, in den die Linksfraktion zu einer Konferenz eingeladen hatte, die sich mit der Energiearmut in Deutschland befasste. Es geht etwa darum, dass nach bundesweiten Daten etwa jeder fünfte Haushalt in der Bundesrepublik Probleme habe, die Stromrechnung zu bezahlen, sagt Anja Draber. Sie arbeitet in der Schuldenberatung der Liga der freien Wohlfahrtspflege in Thüringen. Dass viele Menschen nämlich völlig falsche Vorstellungen davon haben, warum so viele Menschen in diesem Land unter den hohen Energiepreisen leiden - und im schlimmsten Fall eben zu Energieschuldnern werden. Dass solche Menschen eben in der Regel keine Energieverschwender sind. Dass sie sehr wohl wissen, dass die von ihnen verursachten Kosten für Strom und Heizung irgendjemand bezahlen muss. Dass Sarrazin einfach falsch lag.

Was die Probleme der Armen mit der Energie freilich nicht leichter macht: Etwa jeder zweite Schuldner, der bei einer Schuldnerberatung aufschlage, sagt Draber, habe auch bei seinem Energieversorger Ausstände. Was auf die eine oder andere Art dazu führt, dass es in der gesamten Bundesrepublik pro Jahr im Durchschnitt etwa 330 000 Fälle gebe, in denen der Strom abgestellt werde, sagt Draber. Was das im Einzelfall konkret bedeutet, erklärt die LINKE-Landtagsabgeordnete Diana Skibbe. Die Menschen haben dann kein elektrisches Licht mehr in der Wohnung und keinen Strom mehr, um sich eine warme Mahlzeit zuzubereiten. Diese Dinge, die eigentlich völlig normal seien, seien dann von jetzt auf gleich nicht mehr da oder nicht mehr möglich. Und das mitten am Ende der 2010er Jahre, mitten in Europa.

Nach den Erfahrungen von Draber geht es für die Energieversorger oft um nur relativ kleine Summen. »Schon bei 100 Euro Zahlungsverzug werden die Versorger aktiv«, sagt sie - und meint damit, dass die Unternehmen dann bereits damit beginnen würden, die Stromsperren zu beauftragen. Dies geschieht etwa 6,5 Millionen Mal pro Jahr in Deutschland. In vielen Fällen lässt sich eine Stromsperre immerhin noch abwenden. Dies gelingt etwa durch Interventionen der Wohlfahrtsverbände oder durch die Vereinbarung von Ratenzahlungen beziehungsweise von Stundungen.

Wenn man aber bedenke, dass die Kosten einer Sperrung bei ebenfalls etwa 100 Euro pro Fall lägen, sehe man, wie unsinnig es eigentlich sei, zu dieser Maßnahme zu greifen, sagt Draber. Die Kosten für die Abstellung des Stroms trägt der Betroffene. Somit würden sich dessen Schulden gegenüber dem Versorger praktisch verdoppeln. Draber findet das völlig unverhältnismäßig. Die Not dieser Menschen wird dadurch nur noch vergrößert. Denn immerhin seien die Energieschulden fast immer nur ein kleiner Teil der Probleme, die arme Menschen hätten.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.