Der Sinn von Kunst in Zeiten der Gewalt
Bachtyar Ali: Auch in seinem neuen Roman verbindet der kurdische Autor Reales und Märchenhaftes
Eigentlich wollte der Schriftsteller Ali Sharafiar nur kurz in den irakischen Teil Kurdistans fliegen, um Angelegenheiten seiner geschiedenen Ehe zu regeln. Dann aber spricht ihn ein weiß gekleideter Mann auf dem Amsterdamer Flughafen an und bittet ihn, eine Tasche mit Noten und CDs für eine junge Musikstudentin namens Rauschnan Mustafa mitzunehmen. Als er die Studentin nach seiner Ankunft trifft, ist sie in Begleitung eines Mannes, der Dschaldat Kotr heißt. Beide versuchen Sharafiar zu überreden, die Geschichte Kotrs aufzuschreiben. »Wir haben Ihre Bücher gelesen, wir alle«, sagt Rauschnan Mustafa. »Sie sind der Einzige, der es schreiben kann.«
Sharafiar übernimmt die Aufgabe. Der kurdisch-irakische Autor Bachtyar Ali, der seit Mitte der 1990er Jahre im deutschen Exil lebt, lässt in seinem neuen Roman »Die Stadt der weißen Musiker« seinen Erzähler chronologisch mit der Kindheit Kotrs beginnen. 1970 geboren, hört der junge Dschaladat das erste Mal Musik von seinem Nachbarn, einem Flötenspieler. Der ist es auch, der das Talent des Jungen erkennt, und ihm nach seinem Tod seine Flöte vererbt. Zusammen mit einem weiteren Jungen verlässt Dschaladat seine Familie, um bei dem Flötenspieler Ishaki Lewzerin in die Lehre zu gehen.
»Mit diesem Augenblick«, sagt Bachtyar Alis Erzähler, »fängt unsere Geschichte erst richtig an. Die Geschichte zweier Jungen, die alles verlassen und einem alten Musiker folgen. Das ist der wahre Beginn unserer Geschichte. Wenn ihr Geduld habt, werde ich euch auf die lange Spur eines Musikers führen, der in Zeiten von Tod und Vernichtung an das Unsterbliche denkt.«
Warum sollte man sich in einem Land, dass in den letzten Jahrzehnten nur Krieg und Zerstörung kennt, überhaupt für Kunst interessieren? Warum sollte man Musik spielen, Geschichten erzählen, Bilder malen? Bachtyar Ali versucht diese Frage mit zu beantworten, indem er die Geschichte von Dschaladat Kotr erzählt. Wobei er unweigerlich auch zu der Frage gelangt, was Kunst überhaupt ist.
Während des ersten Golfkriegs zwischen Iran und Irak überlebt Dschaladat als einziger der drei Musiker die Verhaftung durch das Regime von Saddam Hussein. Er taucht in einer Wüstenstadt unter, in der nur Musiker und Prostituierte leben, und muss den wahren Musiker in sich töten, um die seelenlose Musik in den Bordellen spielen zu können. Am Ende weiß er nicht mehr, wer er ist. Er verliebt sich in eine der Prostituierten und lernt einen alten Arzt kennen, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, gefährdete Bilder an einem geheimen Ort zu retten. Dort sieht er auch zum ersten Mal das Bild »Die Stadt der weißen Musiker«.
Bachtyar Alis Roman verbindet die Wirklichkeit in der Erzählung seines Alter Ego Ali Sharafiar mit dem Märchenhaftem, kunstvoll verschränkt mit der Erfahrung von Krieg und Gewalt, wie sie die Kurden in den letzten Jahrzehnten im Irak, in Syrien und der Türkei erleiden mussten. Manchmal wendet sich Bachtyar Alis Protagonist wie ein orientalischer Geschichtenerzähler an seine Zuhörer; manchmal fühlt man sich an Erzählungen von Kafka erinnert, die nur ganz leicht verfremdet neben der Realität angesiedelt sind. Immer wieder denkt man beim Lesen, dass sich dieser großartige Roman mit seinen vielen Metaphern und Allegorien eindrucksvoll in die Bilder eines Films übertragen ließe. Eines Films, der vor dem inneren Auge des Lesers bereits jetzt abläuft, der den Horror der Gefolterten ebenso wenig ausblendet wie die Frage des im Exil lebenden kurdischen Schriftstellers nach dem Sinn seiner Existenz.
Bachtyar Ali: Die Stadt der weißen Musiker. Aus dem Kurdischen (Sorani) von Peschawa Fatah und Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Unionsverlag, 432 S., geb., 26 €.
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