- Politik
- Amokfahrt am Kiepenkerl
Münster unter Schock
48-Jähriger raste in Altstadt mit Pkw in Menschenmenge / Zwei Passanten getötet, mehr als 20 verletzt / Polizei ermittelt »in alle Richtungen«
Berlin. Die Bestürzung ist dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet (CDU) anzusehen, als er mit Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Sonntag in die Altstadt von Münster kommt. »Es ist ein schrecklicher, trauriger Tag für die Menschen in Münster, in ganz Nordrhein-Westfalen und in ganz Deutschland«, sagt ein sichtlich erschütterter Ministerpräsident. Seehofer räumt ein, Münster zeige, dass trotz aller Vorsorge absolute Sicherheit nicht möglich sei. Ganz Münster sei entsetzt »über die menschenverachtende Gewalt, die unsere Stadt wie aus heiterem Himmel getroffen hat«, hatte Oberbürgermeister Markus Lewe (CDU) noch am Samstag erklärt.
Die mutmaßliche Amokfahrt mit drei Toten und rund 20 Verletzten am Samstagnachmittag traf die westfälische Stadt zutiefst. Gilt Münster doch bundesweit als Symbol für Frieden und Toleranz: Hier wurden nicht nur im Jahr 1648 die Friedensverträge zur Beendigung des Dreißigjährigen Krieges unterzeichnet. Vom 9. bis 13. Mai ist auch der Deutsche Katholikentag unter dem Motto »Suche Frieden« zu Gast. In Entsetzen und Fassungslosigkeit erlebt die Studenten- und Radfahrerstadt aber auch eine beispiellose Solidarität.
Der Vorfall ereignet sich am ersten richtig warmen Frühlingstag. Die Münsteraner Altstadt ist an diesem Samstag noch voller und belebter als sonst. Es ist der letzte Tag der Osterferien, die Studenten kehren zum beginnenden Sommersemester zurück, die Cafés und Eisdielen der Stadt platzen aus allen Nähten. Auf dem Wochenmarkt auf dem Domplatz wird der erste regionale Spargel verkauft. Am Nachmittag zieht eine große Demo für Frieden im nordsyrischen Afrin durch die Stadt. Dazu gesellen sich die ersten Fans von Preußen Münster, die sich über einen 1:0-Heimsieg ihrer Drittliga-Mannschaft gegen Wehen Wiesbaden freuen.
Plötzlich fahren immer mehr Einsatzkräfte der Feuerwehr und Polizei durch die Stadt, ein Hubschrauber kreist über dem sonst so beschaulichen Münster. Vielen Passanten wird klar, dass etwas vorgefallen sein muss. Im Internet gibt es die ersten Nachrichten, ein Kleintransporter sei in eine Menschenmenge am Lokal »Kiepenkerl« gefahren. Es gebe Tote und Verletzte. Fast alle vermuten ein islamistisches Attentat. Die örtliche Tageszeitung und weitere Nachrichtenportale richten einen Newsticker ein. Bei Facebook können Münsteraner ihren Freunden signalisieren, dass sie in Sicherheit sind.
Die zahlreichen Restaurants und Lokale mit ihrer Außengastronomie rund um den »Kiepenkerl«, nur ein paar Meter von Prinzipalmarkt und Domplatz entfernt, sind ein beliebter Treffpunkt. Genau dort ist der Täter mit einem Campingbus hineingerast. Ein großes Polizeiaufgebot riegelt den Unglücksort weiträumig ab. Partys werden abgesagt, Kneipen wegen des Vorfalls geschlossen.
Vor den Polizeiabsperrungen tauchen immer wieder verunsicherte Anwohner auf, die in ihre Wohnungen zurückwollen, die in der abgesperrten Zone liegen. Im Tibusstift, einem Altenheim unmittelbar neben dem Unglücksort, stehen die Telefone nicht still: Unentwegt rufen Angehörige an, die wissen wollen, ob es den Bewohnern gutgeht.
Die Hilfsbereitschaft ist überwältigend. In der extra geöffneten Blutspende der Uniklinik finden sich mehrere Hundert Spendenwillige ein. Wirtsleute vom nahe gelegenen italienischen Restaurant spendieren Journalisten kostenlos Wasser und Pizza. Bundespräsident und Bundesregierung erklären ihre Anteilnahme und Solidarität.
Etwas Aufklärung gibt es am Sonntag: Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärt, dass es sich wahrscheinlich um einen Einzeltäter handele. Für einen extremistischen Hintergrund gebe es noch keine Hinweise. Ausdrücklichen loben Reul und Seehofer eine zurückhaltende Berichterstattung der Medien.
Die Kirchen bieten Gottesdienste und Seelsorge und rufen zu Solidarität und Gebeten auf. Ein Team von Notfallbegleitern und -seelsorgern ist im Einsatz. Es blieben tiefes Erschrecken, Fragen und Angst, erklärt die Präses der westfälischen Kirche, Annette Kurschus, die auch stellvertretende Ratsvorsitzende der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ist. »Wir müssen das schlimme Ereignis in allen Facetten wahrnehmen und begreifen«, schreibt der Münsteraner Superintendent Ulf Schlien. Auch der Münsteraner Bischof Felix Genn und die Deutsche Bischofskonferenz äußern sich bestürzt.
Für Sonntagabend laden das Bistum Münster und der Kirchenkreis zu einem ökumenischen Gottesdienst in den Münsteraner Dom ein. Dort sollte »für all diejenigen gebetet werden, deren Leben durch die Vorfälle am Samstag auf so schreckliche Weise aus den Angeln gehoben wurde«, erklärt das Bistum Münster.
Täter war polizeibekannt
Die Ermittler betonten am Sonntag, dass die Tat nach ersten Erkenntnissen keinen terroristischen oder islamistischen Hintergrund habe. Der Täter sei Deutscher und stamme aus dem Sauerland. Er soll 48 Jahre alt gewesen sein und schon länger in Münster gewohnt haben. Er war der Polizei bereits wegen mehrerer kleiner Delikte bekannt. Es habe drei Verfahren in Münster gegeben und eines in Arnsberg aus den Jahren 2015 und 2016 - sie seien alle eingestellt worden, sagte die Leitende Oberstaatsanwältin von Münster, Elke Adomeit. Es ging damals um eine Bedrohung, Sachbeschädigung, eine Verkehrsunfallflucht und Betrug. Man müsse den Sachverhalt der Verfahren noch aufklären. »Aber auf den ersten Blick haben wir hier keine Anhaltspunkte auf eine stärkere kriminelle Intensität, die wir bei dem Täter feststellen konnten«, sagte Adomeit.
Debatten in Sozialen Netzwerken
Der Vorfall in Münster hatte in den sozialen Netzwerken große Beachtung gefunden – AfD-Politiker wie Beatrix von Storch und andere rechte NutzerInnen instrumentalisierten die hohe Aufmerksamkeit für die Verbreitung islamfeindlicher Äußerungen und ernteten dafür scharfe Kritik auch aus der Bundespolitik. So bezeichnete SPD-Vizechef Ralf Stegner von Storchs Einlassungen als »ekelhaft« und »widerlich«.
Die Vizechefin der AfD-Fraktion im Bundestag hatte unmittelbar nach den ersten Meldungen über die Amokfahrt den Satz »Wir schaffen das« von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Flüchtlingszuzug zitiert und damit nahegelegt, ein Flüchtling sei für die Tat verantwortlich.
»Das tragische Unglück von Münster ruft Leute auf den Plan, die das politisch instrumentalisieren und die Angehörigen der Opfer missbrauchen wollen - das ist schändlich«, twitterte Stegner. »Völlig unabhängig von Motiven oder Tätern« seien »Tragödien wie in Münster furchtbar«. »Versuche, das politisch auszuschlachten, sind widerlich«, erklärte der Sozialdemokrat.
Von Storch legte am Sonntagmorgen nach und nannte den Täter von Münster einen »Nachahmer« islamistischer Gewalttäter. »Ein Nachahmer islamischen Terrors schlägt zu –und die Verharmlosungs- und Islam-ist-Vielfaltsapologeten jubilieren.« Dieser Jubel sei »der Beweis, dass alle die geleugnete Gefahr genau sehen - der Islam wird wieder zuschlagen«. Die Frage sei »nicht ob, sondern wann«.
Die Bürgerrechtlerin und Bloggerin Katharina Nocun reagierte darauf mit den Worten: »Bei der Bundestagswahl 2017 hatte die AfD in Münster ihr schlechtestes Ergebnis. Prognose angesichts der widerlichen Instrumentalisierungs-Versuche: Das bleibt so.« Der Kabarettist Dieter Nuhr äußerte sich ebenfalls scharf gegen die AfD-Politikerin: »Es gibt Menschen, die sind nicht integrierbar - und Beatrix von Storch gehört mit Sicherheit dazu.«
Cottbus: Mann fuhr mit Geländewagen in Menschengruppe
Bereits am Freitagabend ist es in Cottbus zu einem ähnlichen Vorfall gekommen: Ein Mann fuhr mit einem Geländewagen in eine Gruppe von etwa zehn Menschen auf einem Fußweg. Ein 31-Jähriger wurde verletzt ins Krankenhaus gebracht, er war laut Polizei aber nicht in Lebensgefahr. Ein 21-Jähriger, der am Bein verletzt wurde, verweigerte die Behandlung und wollte bei Bedarf selbst zum Arzt gehen.
Ob es sich um einen Unfall oder eine vorsätzliche Tat handelte, konnte die Polizei am Samstag noch nicht sagen. Der Fahrer des Geländewagens entkam mit dem Fahrzeug. Am Samstagabend schließlich meldete sich ein 25 Jahre alter Tatverdächtiger bei der Polizei. Der Mann soll zuvor am Freitagnachmittag mit einem Alkoholwert von 1,17 Promille an der Puschkinpromenade Polizisten beleidigt und rechtsgerichtete Parolen gerufen hatte.
Ermittlungen ergaben, dass es in der Umgebung vor dem Vorfall eine Prügelei gegeben haben soll. Ob zwischen den Ereignissen ein Zusammenhang besteht, wurde noch geprüft. Agenturen/nd
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