Frust macht Beine

Peter Sagan gewinnt Paris-Roubaix, ein Todesfall überschattet das Rennen

  • Tom Mustroph, Roubaix
  • Lesedauer: 5 Min.

Peter Sagan nahm bei Paris-Roubaix sein Herz in beide Hände. 55 Kilometer vor dem Ziel im Stade Velodrome von Roubaix konterte er eine Attacke des Belgiers Greg van Avermaet und setzte sich dann allein vom Feld der Favoriten ab. Schnell schloss er auf einem der vielen Kopfsteinpflasterpassagen zu ein paar versprengten Ausreißern auf. Der Vorsprung der Gruppe wuchs und wuchs, auf mehr als eine Minute, weil sich die Verfolger nicht einig waren, wer Sagan wieder einfangen sollte.

Der Slowake hatte damit endlich den Schlüssel zur eigenen Frustbewältigung gefunden. Denn in den bisherigen Frühjahrsklassikern hatte die Armada des Teams Quick Step abgeräumt. Zwei Mal hatte Niki Terpstra zugeschlagen, einmal dessen belgischer Landsmann Yves Lampaert. Für Sagan war nur der Halbklassiker Gent-Wevelgem übrig geblieben. Zu den ganz großen Monumenten des Radsports zählt das Rennen aber nicht. Zu wenig für einen Mann, über den der große Eddy Merckx einmal sagte: »Ich erkenne mich in Sagan wieder.«

Weltmeister Sagan schien der natürliche Nachfolger der abgetretenen Haudegen Tom Boonen und Fabian Cancellara zu sein. Doch seit vielen Monaten wollte ihm kaum ein großer Sieg gelingen. Und das sorgte für Frust bei dem für das deutsche Team Bora fahrenden Star. »Alle arbeiten gegen mich. Keiner kooperiert mit mir. So können die Leute von Quick Step gewinnen, wie sie wollen«, meinte Sagan.

Für diese Aussprüche erntete er viel Gegenwind. Tom Boonen, vierfacher Gewinner bei Paris-Roubaix und im letzten Jahr noch bei Quick Step unter Vertrag, startete die verbalen Gegenattacken. »Wenn es hier jemanden gibt, der sich immer an die Hinterräder der anderen hängt, dann ist das Sagan selbst. Er lauert doch die ganze Zeit nur wie die Katze auf dem Baum. Er sollte sich jetzt nicht beklagen«, meinte der Belgier.

Einer aktuelle Quick-Step-Fahrer Philippe Gilbert aus Belgien, der im Wald von Arenberg das Rennen mit einer Attacke auch belebte, hatte nachgelegt: »Wir Belgier sind ja bei drei Weltmeisterschaften für Sagan gefahren, als wir das Feld zusammengehalten haben.« Der Slowake holte sich dann im Sprint die Siege ab.

Sagan musste sich in der Woche zwischen der Flandernrundfahrt, die seinen aktuellen Frust ausgelöst hatte, und Paris-Roubaix zahlreiche Anfeindungen in den sozialen Medien gefallen lassen. Er sei verweichlicht, ein Meckerkopf, einer, dem das eigene Ego davongaloppiere, lauteten einige der Statements. Ihn selbst dürften dieser Reaktionen eher erschrocken zurückgelassen haben. Bislang war er immer der Sunnyboy des Pelotons, den alle mochten, und mit dem alle Freund sein wollten, selbst wenn er ihnen die Siege wegschnappte. Jetzt war er plötzlich der Buhmann.

In der Öffentlichkeit wurde nun zusammengerechnet, was Sagan alles gewonnen - und was er nicht gewonnen hatte. Nur zwei Siege bisher in diesem Jahr, kein großer Klassikersieg - zu wenig, lautete das Verdikt. Beim Team Bora mochte allerdings niemand, zumindest nicht öffentlich, ins Horn der Verzweiflung stoßen. »Natürlich hätten wir uns mit Peter den einen oder anderen Sieg mehr gewünscht. Aber wir waren in den meisten Rennen immer mit vorn dabei«, sagte der sportliche Leiter Enrico Poitschke am Rande von Paris-Roubaix. Das stimmte. Zahlreiche Podestplätze holten die Bora-Männer, etwa mit dem neuen Sprinttalent Pascal Ackermann oder dem schon erfahreneren Iren Sam Bennett. Auch der Kletterer Emanuel Buchmann überzeugte bereits. Und Sagan lieferte eine starke Quote von Top-Ten-Platzierungen, die jede Diskussion über mangelnde Leistungen von allein ersticken sollte: zwei Siege und 13 mal unter den besten Zehn bei 18 Renntagen.

Auf dem Pflaster von Roubaix wollte Sagan nun mit Gewalt das taktische Gefängnis zertrümmern, in das ihn Quick Step so oft gesperrt hatte. Deren Taktik besah oft, einen Tempobolzer wie Niki Terpstra auf den letzten 50 Kilometern vorzuschicken. Kommt er durch, ist alles fein. Wird er eingefangen, sind Männer wie Lampaert, Zdenek Stybar oder Gilbert zur Stelle, um es nicht zu einem Sprint mit Sagan kommen zu lassen.

Mit seiner frühen Attacke entwand sich Sagan nun dieser Umklammerung. Er machte vorn sein Tempo, suchte die Ideallinie über die Pflastersteine und entledigte sich nach und nach seiner Begleiter. Am Ende besiegte er im Sprint den Schweizer Meister Silvan Dillier und feierte seinen ersten Erfolg in Roubaix mit einer kleinen spontanen Party im Teambus.

Eine Stunde später erfuhr Sagan vom Unfall seines Kollegen Michael Goolaerts. Der Belgier musste nach dem Sturz nach gut 100 Kilometern bereits auf dem zweiten Kopfsteinpflaster-Sektor in Briastre offenkundig reanimiert werden, wie TV-Aufnahmen nahelegten. Später wurde er mit dem Helikopter nach Lille abtransportiert. »Unsere Gedanken und Gebete vom gesamten Bora hansgrohe Team und mir sind bei Michael Goolaerts. So traurige Neuigkeiten«, twitterte Sagan noch in der Hoffnung auf ein gutes Ende.

Am späten Abend jedoch vermeldete Goolaerts Mannschaft Veranda's Willems-Crelan ebenfalls über Twitter die schockierende Nachricht: »Mit unvorstellbarer Trauer müssen wir den Tod unseres Fahrers und Freundes Michael Goolaerts bekannt geben. Er starb am Sonntagabend um 22.40 Uhr im Krankenhaus von Lille im Beisein von Familie und Freunden. Er starb an einem Herzstillstand, alle medizinische Hilfe konnte ihm nicht mehr helfen«, hieß es in der Mitteilung. Ob der Sturz den Herzstillstand verursacht hatte oder andersherum war offenbar noch nicht geklärt. Das Team bat zunächst darum, von Spekulationen abzusehen, und der Familie Zeit zum Trauern zu geben.

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