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Vertraue deinem Leben!
Warum Ludwig sein »mickriges« Leben schön findet, so wie es ist.
Feierabend! Ludwig verlässt das Bahnhofsgebäude und tritt auf den Vorplatz hinaus. Zielgerichtet steuert er die runde, pavillonartige Imbissbude an. Die Bude ist wie immer gerammelt voll, es ist warm hier, etwas stickig, die Luft mit Schwaden vom Grill geschwängert. Vom Sehen her kennt Ludwig etliche. Man grüßt sich knapp, das reicht. Mehr geht auch nicht bei der Lautstärke, mit der die Leute den Frauen hinter der Theke, die rau und zugleich gemütlich wirken, ihr Bestellung zuschreien, die diese genauso laut für ihre Kolleginnen, die am Grill stehen, wiederholen. »Eine Brat, Salat«, schreit Ludwig. »Eine Brat, Salat«, schreit die rundliche Frau im nicht mehr ganz blütenweißen Kittel nach hinten. Man steht und isst hier an einem an der Wand verlaufenden Brett, also mit Blick auf die Wand. Das hat den Vorteil, dass man trotz des Gewühls um einen herum ganz bei sich ist und nichts vom Genuss der Bratwurst ablenkt. Ludwig schmeckt’s göttlich, wie immer, aber er lächelt auch, weil er in Gedanken noch einmal an seinen Arbeitsplatz als Schaffner im Regionalexpress zwischen Bremerhaven und Bremen zurückgekehrt ist.
Ja, das war ein guter Arbeitstag heute. Wie immer hat es ihm Spaß gemacht, frühmorgens im ersten Zug, wo die Fahrgäste, meistens Pendler auf dem Weg zur Arbeit, noch verpennt und missmutig in ihren Sitzen hingen, durch muntere Sprüche und kleine Scherze gute Laune zu verbreiten. Einen Krakeeler konnte er Gott sei Dank beruhigen. Kurz vor Feierabend gab es noch eine kritische Situation. Ein männlicher Fahrgast hatte keinen Fahrausweis, und er konnte sich sprachlich mit ihm nicht verständigen. Nach Vorschrift hätte er mit der Bahnpolizei telefonieren müssen, die den Mann dann bei der nächsten Station aus dem Zug herausgeholt hätte. Es ergab sich dann eine bessere Lösung. Eine junge Frau mit Kopftuch fragte, ob sie helfen dürfe, und sprach den Mann in einer Sprache an, die Ludwig nicht kannte. Kurzum: Es stellte sich heraus, dass der Fahrgast ohne Ticket ein Flüchtling aus Syrien war, der einen Bekannten in Bremen besuchen wollte. Er habe gedacht, erklärte die Frau, er könne den Fahrschein im Zug lösen, er entschuldige sich für seinen Fehler und bezahle selbstverständlich.
Wieder an der frischen Luft fühlt sich Ludwig angenehm gesättigt und wohliger Stimmung. Es ist früher Nachmittag. Er überlegt kurz, was er noch so machen könnte an diesem Tag. Er hat frei. Und er ist frei. Keiner wartet auf ihn zu Hause, keine Ehefrau, keine Kinder. Er ist 52 Jahre alt, Junggeselle. So ist das.
Mit dem frei haben, stimmt das allerdings doch nicht so ganz, fällt ihm gerade ein. Beinahe hätte er vergessen, oder besser gesagt verdrängt, dass er gegen Abend noch einen wichtigen Termin hat. Bei Dr. Jürgens, einem Psychotherapeuten. Aber bis dahin sind es noch ein paar Stunden. Und richtig Lust hätte er jetzt auf die Milchbar im Stil der fünfziger Jahre in der Hafenstraße. Altersmäßig passt er da zwar nicht rein, aber die fröhlichen und lautstarken Schüler haben ihn noch nie blöd angesehen. Er mag die Atmosphäre, er liebt die Milchshakes, die es sonst nirgendwo gibt - und er mag Jenny, die Bedienung. Wenn er nur nicht so verdammt schüchtern wäre!
Glück gehabt: Jenny hat Dienst. Irrt er sich oder sieht sie ihn heute irgendwie anders an als sonst? Nicht nur freundlich, sondern, ja, wie eigentlich, eher aufmunternd oder sogar herausfordernd? - Sollte er …? Zunächst verzieht er sich in die Ecke, wo er immer sitzt und vergräbt sich in eine der Zeitungen. Aber es sieht nur so aus, als würde er lesen. In Wirklichkeit kann er sich nicht darauf konzentrieren. Das liegt nicht nur an Jenny. Der bevorstehende Termin bei Dr. Jürgens beschäftigt ihn. Wie kam es eigentlich dazu? Seine Schüchternheit? Vielleicht auch, aber eigentlich konnte er bisher damit leben. So war er eben. Punkt! Und die Blicke von Jenny vorhin, sie zeigen doch, dass es auch sie nicht störte, dass er kein Draufgänger war.
Schlimmer war etwas anderes. Vor nicht allzu langer Zeit war er in ein schwarzes Loch gefallen, aus dem er selbst nicht wieder herauskam. Auslöser war, dass er nach Jahrzehnten einen Mitschüler, mit dem er früher eng befreundet war, zufällig wiedergetroffen hatte. Sie waren zusammen in der Kneipe, verklönten einen ganzen Abend mit reichlich Bier, erzählten sich ihr Leben. Herbert, so heißt der frühere Freund, berichtete, was er alles erreicht hatte, und das war schon beeindruckend: einen glänzend bezahlten Job als Kreativer in der Werbebranche, Haus, Ehefrau, zwei wohlgeratene Kinder, Reisen in ferne Länder, Marathonläufer und, und, und ... Plötzlich bekam Ludwig einen ganz anderen Blick auf sein eigenes Leben. Es kam ihm mickrig vor, irgendwie dürftig, verfehlt, misslungen. Von diesen schwarzen Gedanken konnte er sich nicht mehr befreien und landete so bei Dr. Jürgens. Einige Sitzungen hatte er jetzt schon bei dem Therapeuten, dessen elegante, kultivierte Ausstrahlung sehr angenehm war und der ihm freundlich zuhörte. Mit sanfter, wohlwollender Stimme hatte Dr. Jürgens gesagt, Ludwigs Leben sei doch gar nicht so übel, aber es stimme schon, man könne da sicherlich noch mehr draus machen. Selbstoptimierung sei der Fachausdruck dafür. Er sei bereit, Ludwig dabei zu helfen. Das Motto der Therapie sei »Lebe deinen Traum«.
Ludwig lässt die Zeitung sinken und sieht, wie Jenny genau in dem Augenblick zu ihm rüber blickt. Er winkt ihr zu. Es ist das erste Mal, dass er sich das traut. Und Jenny lacht. Dann denkt er wieder an seine heutige Therapiestunde. Plötzlich weiß er ganz genau, was er Dr. Jürgens gleich zu Beginn der Sitzung mitteilen wird: Dass er über sein Leben nachgedacht habe, dass er es schön finde, genauso wie es ist, und dass er kein anderes haben möchte. Das von Dr. Jürgens vorgeschlagene Motto »Lebe deinen Traum« sei gut, aber er habe für sich einen Leitspruch gefunden, der ihm noch besser gefalle: »Vertraue deinem Leben«. Das zu erkennen, dabei habe Dr. Jürgens ihm sehr geholfen, und er danke ihm dafür.
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