Barrierefrei erst ab dem 6. Stock
Nordrhein-Westfalen: Sozialverbände kritisieren Bau-Novelle der CDU/FDP-Koalition
Düsseldorf. Die geplante Baunovelle der CDU/FDP-Regierung in Nordrhein-Westfalen verschlechtert aus Sicht von Behinderten- und Sozialverbänden die Standards für barrierefreies Bauen in Nordrhein-Westfalen. Es sei absurd, dass barrierefrei zugängliche Aufzüge künftig erst ab der sechsten Etage Vorschrift werden sollten, kritisierte der Vorsitzende des Sozialverbandes VdK NRW, Horst Vöge, in Düsseldorf. Bislang gelte das bereits ab der fünften Etage.
Das von der CDU-Politikerin Ina Scharrenbach geführte Bauministerium verwies in einer Mitteilung darauf, dass eine generelle Aufzugpflicht aber bereits ab der vierten Etage gelten solle. Ab sechs Geschossen muss laut Gesetzentwurf »mindestens ein Aufzug Krankentragen, Rollstühle und Lasten aufnehmen können« und von allen Wohnungen aus barrierefrei erreichbar sein.
Angesichts des Baubooms in Deutschland pocht die Berufsgenossenschaft auf ausreichenden Schutz für Arbeiter auf den Baustellen. »Es ist ganz klar: Es wird im Moment sehr viel gebaut. Auch die Bauzeiten haben sich immer weiter verkürzt«, sagte der Leiter der Präventionsabteilung der BG Bau, Bernhard Arenz.
Durch Zeit- und Kostendruck entstünden Situationen, die dem Arbeitsschutz nicht immer zuträglich seien. In der Bau- und Reinigungsbranche sind Arbeitsunfälle seit Längerem rückläufig. Nach vorläufigen Zahlen wurden 2017 etwa 103 200 meldepflichtige Arbeitsunfälle re- gistriert – 2010 seien es 118 000 gewesen. Die Zahl der tödlichen Unfälle nahm dagegen zu: 88 Menschen starben bei Arbeitsunfällen, elf mehr als ein Jahr zuvor. dpa/nd
Die CDU/FDP-Regierung hatte die Bau-Novelle der rot-grünen Vorgängerregierung gestoppt. Sie sah unter anderem beim Bau von mehr als acht Wohnungen mindestens eine rollstuhlgerechte Wohnung vor - bei mehr als 15 Wohnungen zwei. Der neue Gesetzentwurf sehe gar keine Quote mehr für rollstuhlgerechte Wohnungen vor, kritisierten die Sozialverbände. Die Novelle der schwarz-gelben Koalition soll am 4. Mai im Landtag von Experten erörtert werden.
Aus Sicht der Sozialverbände müssen alle Wohnungsneubauten ebenso wie neue öffentliche Gebäude ausnahmslos barrierefrei sein. Dies solle nicht nur für Rathäuser, sondern auch etwa für Einkaufszentren, Kinos oder neue Arztpraxen gelten, erläuterte Vöge. »Über 70 Prozent der Arztpraxen sind nicht barrierefrei - die freie Arztwahl gilt also nicht für alle.« Der Landesvorsitzende des Sozialverbands Deutschland (SoVD) Franz Schrewe betonte, auch der barrierefreie Zugang zu Kellerräumen müsse Standard werden.
Nützlich sei Barrierefreiheit keineswegs bloß für Behinderte, sondern auch für Ältere und für Familien, unterstrich Vöge. »Jeder fünfte Mensch in NRW ist bereits 65 Jahre oder älter.« Die Zahl der über 80-Jährigen werde Bevölkerungsprognosen zufolge drastisch ansteigen. Darüber hinaus benötigten die Eltern von über 500 000 Kleinkindern in NRW barrierefreie Wohnungen mit Abstellflächen für Kinderwagen. Das Thema gehe jeden an: »Wer morgens noch nicht behindert ist, könnte es abends schon sein.« Von der Bauindustrie verbreitete Zahlen von fast einem Viertel Mehrkosten durch barrierefreies Bauen seien »ein Märchen«, meinte Vöge. Der VdK habe als Bauherr bereits unter Beweis gestellt, dass rollstuhlgerechtes Bauen mit unter einem Prozent Mehrkosten möglich sei.
Die Verbände fordern zwingende Auflagen, Überwachungsmechanismen und Sanktionen bei Verstößen gegen gesetzliche Bauvorschriften. Seit vielen Jahren seien die Vorgaben für barrierefreies Bauen ignoriert worden, kritisierte Horst Ladenberger von der »Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben NRW«.
Zudem müsse die Landesregierung endlich belastbare Bedarfszahlen erheben, unterstrich Vöge. »Man fragt beim Mikrozensus ja auch nach Hunden. Dann kann man ja auch mal fragen: Wie viele rollstuhlgerechte Wohnungen brauchen wir?« dpa/nd
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