Too much information

Leo Fischer über zu viel Glas, zur Schau gestellte Harmlosigkeit und Reflexe aus der Zeit, als wir Spitzmäuse waren

In dem hübschen grünen Ausgehviertel, in dem ich als weißer Medienmensch geradezu idealtypisch wohnen muss, kommt die Gentrifizierung seit Jahren nicht recht in die Gänge. Immer wieder versuchen Galerien und auf hip gedrehte Reklamefirmen, sich in den großzügigen Erdgeschossläden aus der Gründerzeit einzunisten - nur, um nach ein, zwei Jahren die Segel zu streichen und wieder einem Kiosk oder Bratwarenladen Platz zu machen. Lange habe ich gerätselt, was sie so schnell vom topsanierten Parkett fegt. Sind es nur die übergeschnappten Vermieter? Die exorbitanten Lebenskosten? Oder die Tatsache, dass das letztlich strunzfade Frankfurt für urbane Arbeits- und Lebensformen immer noch nicht reif ist?

Ich glaube ja, es liegt am Glas. Alle diese schicken neuen Läden, sie verzichten sämtlich auf Jalousien, Gardinen und andere Instrumente der Diskretion. Stets liegt das jeweils neueste Agenturenelend für alle klar sichtbar in der Auslage. Statt Mannequins oder Schweinebäuchen stellen sich die Medienmenschen selber aus, die Angestellten sind zugleich immer auch Ausgestellte. Es soll klar werden: Bei uns ist alles hell und offen und entspannt und nett, wir haben nichts zu verbergen und sind jederzeit für alle da, bitte sprechen Sie uns doch mal an, verdammt!

Es wird mir immer ganz unbehaglich, wenn einer seine Harmlosigkeit so ostentativ zur Schau stellt - meist ist es ein Hinweis darauf, dass die Sauereien nur besonders gründlich kaschiert werden, was zweifellos eine wichtige Qualifikation für Medienagenturen sein kann. Und auf die Bildschirme kann man den Leuten in den totaltransparenten Büros interessanterweise auch nie gucken, obwohl nichts dagegen spricht, dass da statt intelligenter Ansprachen und smartem Design werweiß auch Tierpornos laufen könnten.

Aber unabhängig davon: Sie halten sie nicht aus, die Totaltransparenz. Jedes Mal, wenn einer vorbeikommt und reinguckt, gucken sie zurück. Ganz kurz nur, aber sie gucken immer. Für einen Moment nimmt die Körperspannung zu, der Puls steigt, und die Pupillen zucken reflexhaft fensterwärts. Das ist auch ganz natürlich, vielleicht ist es eine anthropologische Konstante, herrührend aus der Zeit, als wir winzige Spitzmäuse waren und hinter jeder Ecke ein Saurier herumlungerte. Aber vor allem ist es Stress. Es gewöhnt sich keiner daran, noch nach Jahren nicht. Man guckt eben, und man guckt zurück. Wer schon von Berufs wegen die Aufmerksamkeit hat, als Redner oder Lehrer, weiß, dass es Arbeit ist, Aufmerksamkeit auszuhalten. Es ist nie lässig und entspannt, und die Leute gehen ebenso körperlich erschöpft nach Hause wie Fließbandarbeiter.

Und im Gegensatz zu Rednern oder Lehrern müssen die Agenturmenschen dabei noch entspannt wirken! Dutzende Fremde kommen jeden Tag an ihrem Arbeitsplatz vorbei, schauen hinein, stressen durch Aufmerksamkeit. Über die gesamte Arbeitszeit hinweg müssen nicht nur Marken gebrandet oder Audiences getargetet werden, sondern muss auch der unentwegte Optimismus der lebenden Auslage geschauspielert werden. Im Großraumbüro kann man sich hinter der Trennwand wenigstens gelegentlich noch am Arsch kratzen. In der Dauerausstellung der Ladenvitrine ist keinerlei menschliche Regung erlaubt.

Besonders bizarr wird das eine Straße weiter, wo eine Familie mit Erdgeschosswohnung ihr ganzes Leben derart zur Schau stellt. Ich übertreibe nicht. Man kann der Familie jeden Abend von der Straße aus beim Essen zusehen. Ohne Weiteres ließe sich hier ausbreiten, was man schon durch bloßes Vorbeigehen über sie in Erfahrung bringen kann, allein, man will den kolossalen Irrtum dieser Leute ja nicht wiederholen. Und natürlich gucken alle zurück, wenn man hineinguckt. Ich wünschte, die Leute würden gegenrechnen, wie sich der Preis für die Anschaffung einer Gardine gegen hunderte Stunden beim Jugendtherapeuten verhält, aber wer seine Kinder für Schweinebäuche hält, deren ordnungsmäßige Verarbeitung vor der Öffentlichkeit angepriesen gehört, dem ist auch mit Buchhaltung nicht zu helfen.

Vor Jahren beschwor Max Goldt einmal die »helle alte Zeit«, um gegen die Trübfunzeligkeit vor allem in Hotelräumen anzugehen. Es wäre jetzt wieder an der Zeit, ein neues Zeitalter der Finsternis auszurufen, ein Zeitalter von Paravents, Geheimtüren und Zauberspiegeln, auf dass wenigstens ein bisschen Heimlichkeit und Heimeligkeit in der vollends aufgeklärten Welt verbleibe. Macht doch bitte jemand das Licht aus!

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