Was ist heute noch normal?
Der Kampf um die »Neue Normalarbeitszeit« hat gerade begonnen
Was nützt die schönste Theorie, wenn sie keinen Praxisbezug hat? Insofern stand die Tagung »Initiative für ein neues Normalarbeitsverhältnis«, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung am Freitag in Berlin ausrichtete, von Anfang an im engen Kontakt zur Praxis. Denn vor dem Konferenzgebäude am Franz-Mehring-Platz hatten die Beschäftigten eines Tochterunternehmens der Berliner Vivantis-Kliniken an diesem Freitagmorgen ihr Streiklokal eingerichtet. Die Angestellten des landeseigenen Klinikkonzerns streiken zurzeit gegen Tarifflucht durch Ausgliederung.
DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach, die auch als Rednerin auf dem Kongress sprach, beklagte während einer Pressekonferenz im Vorfeld der Veranstaltung die »massive Spaltung« auf dem deutschen Arbeitsmarkt: »Gut bezahlte Facharbeiter auf der einen und den größten Niedriglohnsektor Westeuropas auf der anderen Seite.« Es müsse Schluss sein mit der Flucht der Arbeitgeber aus der Tarifbindung. Gegen eben diese Spaltung und Tarifflucht protestierten draußen die Vivantes-Mitarbeiter. Während für 600 von ihnen noch der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst gilt, arbeiten 300 Kollegen ohne Tarifvertrag und erhalten so pro Monat bis zu 1000 Euro weniger - für die gleiche Arbeit.
Der Arbeitsmarkt ist in Bewegung, die Digitalisierung beschleunigt Prozesse, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen - andererseits ermöglicht sie neue Arbeitszeitmodelle. Ist das Gerede vom Normalarbeitsverhältnis also Schnee von gestern? »Die Bedürfnisse sind vielfältig, doch die Vielfalt birgt auch eine neue Ungleichheit«, erklärte Buntenbach. Die Gewerkschafterin plädiert deshalb für Standards, die für möglichst viele Beschäftigte gelten müssten. Angesichts der Vielzahl der möglichen Modelle - von der klassischen Vollzeit, über Minijobs und Clickworking - keine leichte Aufgabe. Hoffnung macht Buntenbach, dass sich mittlerweile prekär Beschäftigte, etwa bei Lieferdiensten wie Foodora, »organisieren und Betriebsräte gründen, auch wenn dies von den Arbeitgebern sabotiert wird«.
Die Arbeitssoziologin Nicole Mayer-Ahuja verbreitete ebenfalls vorsichtigen Optimismus. So sei es in den 80ern noch undenkbar gewesen, »dass sich in einer so prekären Branche wie dem Reinigungsgewerbe Betriebsräte gründen«. Mittlerweile würden aber viele größere Firmen über eine solche Arbeitnehmervertretung verfügen.
Der LINKEN-Vorsitzende Bernd Riexinger forderte, es müsse leichter werden, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Der ehemalige Gewerkschaftssekretär erinnerte daran, »dass im Jahre 2001 noch für 90 Prozent aller im Handel beschäftigten Tarifverträge galten, heute nur noch für 30 Prozent«. Der sich verschärfenden Konkurrenzkampf im Einzelhandel werde auf dem Rücken der Angestellten ausgetragen, kritisierte Riexinger, der 2017 selbst Vorschläge für »Neues Normalarbeitsverhältnis« unterbreitet hatte. Die Eckpunkte seines Konzepts: »Arbeit im digitalen Zeitalter muss besser bezahlt und planbar werden, darf nicht zu Dauerstress führen und da müssen wir auch über neue Arbeitszeitmodelle reden«, so Riexinger und plädierte für die »kurze Vollzeit«, die sich bei 30 Stunden pro Woche einpendeln soll. Ein erster Schritt ist getan: So setzte die IG Metall im Februar durch, dass Beschäftigte ihre Arbeitszeit für bis zu zwei Jahre auf eine 28-Stunden-Woche reduzieren können. Und in Schweden testet man derzeit den Sechs-Stunden-Tag.
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