Revolution in Rekordzeit

Laut Veranstalter nahmen 15.000 Menschen an linker Demonstration in Kreuzberg teil

  • Tim Zülch und Martin Kröger
  • Lesedauer: 3 Min.

Gegen 18 Uhr ist am 1. Mai auf dem Oranienplatz in Kreuzberg kein Durchkommen mehr. Kurze Zeit später donnern Böller, farbiger Rauch aus bengalischen Feuern steigt auf. Die Demonstranten packen Transparente und Fahnen aus, dann setzt sich die »Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration« durch das »Myfest« Richtung Schlesisches Tor in Bewegung. Während die Polizei von 7000 Teilnehmern spricht, zählen die Veranstalter am Abend »mehr als 15 000 Menschen«. »Die Teilnehmerzahl hat unsere Erwartung erfüllt«, sagt Tobias Feldner, der Sprecher der linksradikalen Demonstration.

»Revolutionäre Kommunen aufbauen und verteidigen« steht auf dem Fronttransparent der Demonstration. Dahinter laufen teilweise vermummte Antifaschisten. Auch Fahnen der nordsyrischen Kurdenmiliz YPG und der in Deutschland verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK werden besonders in einem Block geschwenkt - das im Vorfeld angekündigte »Fahnenmeer« gibt es so indes nicht. Polizisten beobachten die Demonstration zunächst vom Rande aus und filmen.

An der Demonstration nimmt auch Horst Walter mit einer Fahne der »Antifaschistischen Aktion« teil. Den langjährigen Aktivisten, der sich selbst als »Revoluzzer« bezeichnet, treibt derzeit die Mietenproblematik um. »Die Deutsche Wohnen sollte man enteignen«, sagt der 65-Jährige, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Von einer Revolution hält er mittlerweile eher wenig, er war aber in kommunistischen Parteien aktiv.

Auf Höhe der Naunynstraße kommt es zu Auseinandersetzungen: Eine Gruppe von offensichtlich Palästina-Sympathisanten greift Demonstrationsteilnehmer an, weil angeblich eine Israel-Fahne zu sehen gewesen sein soll. »Viva Palestina« schallt es. Bald danach, unter der Hochbahn auf der Skalitzer Straße, dominieren wieder antikapitalistische und antifaschistische Sprechchöre.

Auf den letzten Metern zum Schlesischen Tor nimmt die Anzahl der Polizisten und vor allem von sogenannten Greiftrupps zu - in den Seitenstraßen stehen viele Polizeifahrzeuge bereit, und auch Wasserwerfer sind außer Sichtweise geparkt. Das schwere Geräte dient zusammen mit wassergefüllten Säcken auch zur Anschlagsabwehr, damit niemand mit einem Lkw in die Demonstration und die feiernden Massen rasen kann.

Gegen 19.30 Uhr, in rekordverdächtiger Zeit, ist der Demonstrationszug am Ziel U-Bahnhof Schlesisches Tor angelangt. Als die Demonstranten danach wieder zurück ins »Myfest« laufen wollen, werden sie von Ketten behelmter Polizisten aufgehalten. Anschließend löst sich die Demonstration auf. Hier und da kommt es zwar zu Festnahmen und kleineren Rangeleien, aber größere Ausschreitungen wie noch Ende der Nuller Jahre bleiben aus. Viele Demonstrationsteilnehmer mischen sich unter die Feiermeute, die auf dem »Myfest« und nebenan im »Maigörli« Party macht.

Die Organisatoren der »Revolutionären 1.-Mai-Demonstration« indessen sind zufrieden: »Die Menschen haben ihre Wut gegen die herrschenden Verhältnisse, die Ausbeutung, Unterdrückung und Krieg bedeuten, auf die Straße gebracht«, sagt Tobias Feldner, der Sprecher des Aufzuges.

Zufrieden ist ebenfalls Berlins neue Polizeipräsidentin, Barbara Slowik. »Unser Einsatzkonzept ist voll aufgegangen«, sagt sie. Auch Innensenator Andreas Geisel (SPD) war angesichts des Verlaufs des »erneut friedlichen 1. Mai« voll des Lobes für den Polizeieinsatz. »Mit ihrem besonnenen und professionellen Auftreten und der klugen Einsatztaktik der Berliner Polizei blieben der Stadt Ausschreitungen und Randale erspart«, so Geisel. Insgesamt hat die Polizei 5170 Beamte aufgeboten, darunter 1581 Einsatzkräfte aus anderen Bundesländern und der Bundespolizei. Bis zum Mittwoch meldeten sich 20 leicht verletzte Polizisten.

Insgesamt nahm die Polizei am 1. Mai 103 Personen fest. Gegen sie wird unter anderem wegen Landfriedensbruchs, Widerstands und Sachbeschädigung ermittelt. Auch für weitere Demonstranten könnte der 1. Mai ein Nachspiel haben. Die Polizei kündigte nämlich an, dass eine »Ermittlungsgruppe 1. Mai« ihre Tätigkeit aufnehmen werde, um nach Sichtung der umfangreichen Video- und Fotomaterialien weitere Verdächtige zu identifizieren.

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