Kooperativen gegen Kapitalismus

Resat Kaymaz von der »Union der Kooperativen Rojavas« im Gespräch über Wirtschaftspolitik in Nordsyrien

  • Kerem Schamberger
  • Lesedauer: 7 Min.

Wie ist die aktuelle ökonomische Lage in Rojava?

Im Bereich des Handels entwickelt sich viel. Im landwirtschaftlichen Sektor gibt es aber Probleme. Alle Aussaaten sind durch die anhaltende Trockenheit verdorrt. Da werden wir dieses Jahr einen Mangel erleben. Zudem basiert die Ökonomie Rojavas vor allem auch auf Import von außen. Hier haben wir aufgrund des existierenden Embargos Probleme an den Grenzübergängen. Wir können die Güter, die wir benötigen, um auf eigenen Beinen zu stehen, nicht einführen. Das macht sich vor allem im industriellen Bereich, beim Aufbau von Fabriken, bemerkbar.

Reşat Kaymaz
Reşat Kaymaz (geboren 1980) ist Vorstandsmitglied in der »Union der Kooperativen Rojavas« (Y.K.R.) und in der Koordination der Hevgirtin-Kooperative, die an die Handels-Kommission des Cizire-Kantons angebunden ist und Lebensmittel zu günstigen Preisen an die Bevölkerung verkauft.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wenn Dünger aus der Türkei nach Südkurdistan (Irakisch-Kurdistan) exportiert wird, kostet er 230 Dollar. Aber wenn derselbe Dünger dann nach Rojava gebracht wird, kostet er 480 Dollar. Das ist eine Preissteigerung von mehr als 100 Prozent. Die importierten Güter sind sehr teuer. Und das spiegelt sich auch in der sozialen Lage der Bevölkerung wieder. Diese ist nicht besonders gut. Ein Beamter erhält hier ein Gehalt von 60 bis 75 000 syrische Lira (umgerechnet ca. 100 Euro). Deshalb haben die Menschen Probleme, über die Runden zu kommen. Das liegt vor allem an dem Embargo, das uns von außen auferlegt wird.

Im Westen wird von einigen Linken behauptet, in Rojava werde eine Alternative zur bisherigen kapitalistischen Ökonomie aufgebaut. Stimmt das?

Natürlich gibt es in Rojava nach wie vor ein dominierendes kapitalistisch-ökonomisches System. Im ganzen Mittleren Osten herrscht Kapitalismus. Aber als Alternative dazu bauen wir als Aktivisten des Demokratischen Konföderalismus gerade eine demokratisch-gesellschaftliche Ökonomie auf, ja. Das funktioniert vor allem über Kooperativen, also Genossenschaften.

Was muss man sich darunter vorstellen?

Wir führen Versammlungen durch, dort werden Vorschläge gesammelt und daraus Projekte entwickelt. Diese setzen wir auf vier Grundlagen basierend um: Handel, Industrie, Landwirtschaft und Tierzucht. Darüber hinaus gibt es eigene Frauenkooperativen, in denen ausschließlich Frauen entscheiden.

Alle Kooperativen hier sind an das Rätesystem und die demokratische Selbstverwaltung angebunden. Es gibt Kommunen, Räte, Akademien. Gemeinsam mit diesen bauen wir die Kooperativen auf. Die Kommunen entscheiden selbst darüber, wie sie ihre ökonomischen Probleme zu lösen versuchen. In den Akademien werden die Menschen ausgebildet, um die beschlossenen Projekte umzusetzen und die Kooperativen ins Leben rufen zu können.

In welchen Bereichen gibt es denn diese Kooperativen?

Beispielsweise gibt es Genossenschaften, die sich um die Stromversorgung kümmern. Es gibt Bäckereigenossenschaften, ebenso wie eine Wassergenossenschaft, die Rojav heißt und die Versorgung mit Wasser sicherstellen soll. Außerdem gibt es landwirtschaftliche Genossenschaften auf Boden, der dem Kanton Cizire oder Kobane gehört und der von jeweils 30 bis 60 Familien bearbeitet wird. Wir geben das Land den Familien, sie können es bearbeiten und den Ertrag größtenteils behalten. Ein kleinerer Teil geht an die Selbstverwaltung.

Es gibt Genossenschaften für Klamotten, Getränke und so weiter. Wir haben jetzt sogar eine Helva-Fabrik eröffnet (Anmerkung: Helva ist eine im Mittleren Osten bekannte und beliebte Süßspeise), die von 150 Familien betrieben wird. Die Einnahmen der Fabrik werden unter diesen Familien verteilt. Und dann gibt es die Hevgirtin-Handelsgenossenschaft, fast 4000 Familien sind darin organisiert. Es gibt zudem Rinder-, Schafs-, Enten-, Puten-, Hühnergenossenschaften. In Shedade hat sich eine Genossenschaft gebildet, die Salz produziert. Die früher der syrischen Regierung unterstellten Baumwollfarmen haben wir ebenfalls in Genossenschaften umgewandelt.

Warum wird denn so viel Wert auf diese Kooperativen gelegt?

Die Kooperativen sollen eine Antwort auf die kapitalistische Ökonomie sein. Ob das ausreichen wird, kann ich nicht sagen. Unser Ansatz ist aber: Je mehr Genossenschaften wir aufbauen, umso mehr schränken wir den Kapitalismus ein. Wir wollen einen eigenen Markt aufbauen, so dass der kapitalistische Markt immer kleiner wird.

Und wie werden die Anteile der Erträge der Kooperativen verteilt?

Ich will das am Beispiel der Landwirtschaftsgenossenschaften verdeutlichen: Die Selbstverwaltung stellt die Felder zur Verfügung und erhält dafür 20 Prozent des Ertrags, fünf Prozent erhält der Dachverband aller Kooperativen, um finanzielle Mittel zum Aufbau neuer Genossenschaften zur Verfügung zu haben. 25 Prozent bleiben in der Kasse der Genossenschaft, um im kommenden Jahr Mittel zur Investition zu haben. Die verbleibenden 50 Prozent werden unter den Genossenschaftsmitgliedern verteilt.

Wie ist es bei den Handelsgenossenschaften?

Bei der Hevgirtin-Kooperative wird alle sechs Monate eine Abrechnung gemacht und der Ertrag an die Mitglieder verteilt. Bei den Stromgenossenschaften erhalten die Mitglieder den Ertrag in Form von Ampere-Stromkontingenten, die günstiger sind, als wenn sie sich jeweils eigens einen privaten Stromgenerator kaufen würden.

Werden die Kooperativen planwirtschaftlich koordiniert? Oder konkurrieren sie untereinander?

Es gibt einen Dachverband aller Kooperativen (Yekitiya Kooperatifen Rojava, YKR), außerdem sind alle auch an die jeweiligen regionalen Strukturen der Selbstverwaltung angebunden. Sie konkurrieren nicht, sie unterstützen sich gegenseitig. Zum Beispiel hat die Hevgirtin-Handelskooperative Anteile einer Tierzuchtkooperative gekauft und sie damit finanziell unterstützt. Wie gesagt: Fünf Prozent des Ertrages der landwirtschaftlichen Genossenschaften gehen an den Dachverband YKR. Dieser verwendet ihn wiederum zum Aufbau neuer Genossenschaften oder verleiht das Geld an schon existierende Kooperativen. Diese Kredite werden nach Bedarf für sechs Monate oder ein ganzes Jahr gegeben.

Wie werden Löhne und Arbeitszeiten vereinbart?

Das entscheiden die Kooperativen selbst.

Und wie ist die Beteiligung an den Kooperativen?

Vor zwei Jahren haben wir damit begonnen. Schon davor gab es von der syrischen Regierung ins Leben gerufene Kooperativen. Wir versuchen den Menschen jetzt zu erklären, dass die neuen Kooperativen - anders als zuvor - von ihnen selbst geleitet werden sollen. Und ja, da gibt es Beteiligung, aber noch nicht genug.

Du selbst bist bei der Hevgirtin-Kooperative. Was macht ihr?

Hevgirtin gibt es in jeder Region Rojavas, in Serekaniye, Til Tamer, Heseke, Amude, Qamischli, Manbidsch und so weiter. Sie ist in den jeweiligen Gebieten autonom und kann selbst entscheiden, wie viele Menschen jeweils dort arbeiten. Es handelt sich bei Hevgirtin um die erste Handelskooperative, sie wurde vor zwei Jahren gegründet und hat bislang drei Mal ihre Erträge an die Mitglieder verteilt. Sie hat auch eine Wirkung auf den kapitalistischen Markt. Allein die Existenz von Hevgirtin übt eine Kontrolle aus.

Inwiefern das denn?

Ein Beispiel: Zucker. Der war früher nur auf dem kapitalistischen Markt zu bekommen, er wurde aus anderen Ländern importiert. Ein Sack, der normalerweise ungefähr 14 000 syrische Lira kostet, stieg auf einmal auf bis zu 60 000 Lira an. Was hat Hevgirtin also gemacht? Wir haben begonnen, selbst Zucker im großen Maße einzuführen und den Preis damit auf 13 000 Lira gesenkt. Das gleiche ist bei den Zementpreisen passiert. Erst als wir selber Zement eingeführt und zu einem festgelegten niedrigen Preis verkauft haben, ist der durchschnittliche Preis ebenfalls gefallen. Im kapitalistischen System denkt jeder nur an sich, insbesondere die Händler. Sie haben versucht, aufgrund der Kriegsbedingungen einen Extraprofit zu machen und sich zu bereichern. Sie haben Güter eingeführt und diese überteuert verkauft, immer mit dem Ziel, ihren Profit zu maximieren. Dagegen haben wir interveniert.

Wird für die Kooperativen Grund und Boden kurdischer oder arabischer Großgrundbesitzer enteignet?

Es gibt hier nicht wirklich Großgrundbesitzer, deshalb kann man auch nicht von Enteignung sprechen. Enteignungen entsprechen auch nicht unserer Weltanschauung, deshalb steht das nicht auf der Tagesordnung. Wir verfügen über genug Land und auch die Menschen hier haben Land. Wir versuchen sie aufzuklären und zu animieren, ein kommunales gemeinschaftliches Leben zu organisieren. Die Kooperativen entstehen dann, wenn die Menschen zusammenkommen und entscheiden, dass sie eine Kooperative gründen wollen. Dann bieten wir Unterstützung an. Sie haben die Wahl. Es gibt hier Marktfreiheit.

Wie stehen denn die USA, Frankreich und andere Verbündete der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) zu den Kooperativen? Mischen sie sich in die ökonomische Entwicklung ein?

In die Kooperativen kann sich hier nicht einmal die Selbstverwaltung einmischen. Die Kräfte der Anti-IS-Koalition haben ebenfalls nicht die Befugnis, sich in diese Dinge einzumischen und bis heute ist so etwas auch nicht passiert. Wir fänden das auch nicht richtig. Aber: Hier gibt es einen freien Markt. Hier kann jeder arbeiten. Wenn sie uns unterstützen wollen, sind wir dafür offen. Zum Beispiel ist der internationale Kooperativenverbund hierhergekommen und hat uns besucht. Wir haben gemeinsam über verschiedene Konzepte diskutiert. Unser Ziel ist es, die Vorherrschaft der Monopole über die Menschen zu brechen. Dass niemand sich auf Kosten der Gesellschaft bereichern kann. So lange das beachtet wird, kann hier jeder herkommen und arbeiten.

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