Ein Dach und vier Wände

Im Kino: »Der Buchladen der Florence Green« von Isabel Coixet

  • Felix Bartels
  • Lesedauer: 6 Min.

Eine weibliche Stimme berichtet, Jahrzehnte zurückblickend, von den Begebenheiten um die Buchhändlerin Florence Green: »Sie sagte mir mal: Wenn wir eine Geschichte lesen, bewohnen wir sie. Der Einband eines Buchs ist wie ein Dach und vier Wände.« Die Sprecherin zitiert die Heldin des Films, die ihrerseits den Schriftsteller John Berger zitiert, der sich seinerseits auf Diderots theatralische Theorie bezieht. Diese Intertextualität der dritten Stufe ist mehr als bloß Fanservice für das mutmaßlich bibliophile Publikum des Films. Jene vier Wände bedeuten das Wesen von Fiktion überhaupt, die nur dort bestehen kann, wo sie sich selbst verleugnet, und das Denken in Zitaten scheint die natürliche Ausdrucksform einer Leseratte, die von Buch zu Buch kommt, es zwar bewohnen, aber nie ganz besitzen kann.

Daher habe Florence jene Momente geliebt, in denen ein Buch endet. Während die Story sich in ihrem Kopf noch weiterspann, reinigte sie sich auf langen Spaziergängen von den Gefühlen, die es in ihr angerichtet hatte. Auf die Einfühlung folgt, ebenso notwendig, die Distanzierung. Die konkreten Figuren müssen sterben, damit die Ideen virulent bleiben können. Und zwei unscheinbare Worte fügt die Sprecherin dem Zitat hinzu. Hinter »a roof and four walls« setzt sie »a house« und legt dabei eine dezente Traurigkeit in die Stimme, was als subtiles Foreshadowing verständlich wird, sobald man das Ende der Handlung kennt. Der Film ist zu diesem Zeitpunkt keine 30 Sekunden alt und hat schon mehr aufs Tableau gebracht als ein zweieinhalbstündiger Marvel-Blockbuster nach Ablauf.

Das Setting ist durch die Buchvorlage, Penelope Fitzgeralds »The Bookshop« (1978), bekannt. Die früh verwitwete Florence Green entschließt sich Ende der 1950er Jahre, in der kleinen Ortschaft Hardborough an der englischen Ostküste einen Buchladen zu eröffnen. Dabei gerät sie in Konflikt mit der einflussreichen Aristokratin Violet Gamart, die das Gebäude, in dem Florence den Laden betreibt, für ihre Zwecke nutzen will. Was sich anhört wie eine Geschichte von Klassenkämpfen, unterläuft allerdings, und wohl vorsätzlich, diese Dimension des Konflikts. Ganz im Geiste unseres Zeitalters geht es nicht um soziale Notstände oder wenigstens die aristokratische Furcht vor einer lesenden Arbeiterklasse. Es ist vielmehr ein Kulturkampf.

Mrs. Gamart beansprucht nicht bloß den Ort für die Kunst, sondern auch die Kunst für den Ort. Der drohenden Buchkultur setzt sie die »local art« entgegen - Schauspiel, Vorträge, Musik. Das bedeutet zweierlei. Einmal die Abdichtung gegen Einflüsse von außen und dann den Vorrang der Performance vor der bloßen Kunst. Die politische Gefahr des Buchs liegt in seiner unmittelbaren Beziehung zum Leser. Der Käufer nimmt es mit nach Hause, seine Wirkung entfaltet sich ohne gesellschaftlichen Zusammenhang, ist also der Kontrolle politischer Liturgie entzogen. Das wird besonders heikel, wenn es um moderne Literatur geht, wie Bradburys »Fahrenheit 451« oder Nabokows »Lolita«, deren Erscheinen in Hardborough zum Politikum gerät.

Man missdeutet die Handlung nicht, wenn man die Personage des kleinen Ortes als Panorama sieht, in dem aristotelisch komprimiert mögliche Haltungen durchgespielt werden unter dem Vorgang eines gesellschaftlichen Wandels. Im Kampf alter gegen neue Ideen gibt es die Idealistin, die Konservative, den Eskapisten und den Opportunisten. Alle vier Positionen sind so eindeutig besetzt, dass es schwerfällt, hinter dem gestischen Charakter noch den Charakter zu erkennen. Die Figuren kommen vom Reißbrett, sind reine Kopfgeburten. Zwischentöne, das Aufscheinen des Bösen im Guten wie des Guten im Bösen, scheint die Sache dieses Films nicht. Florence Green ist so gut (und nur gut), Mrs. Gamart so mies (und nur mies), dass schon die tiefsinnigen, witzigen Dialoge und die erwiesene Schauspielkunst der Kollegen Mortimer, Clarkson und Nighy herhalten mussten, das recht schematische Geschehen genießbar zu machen. Die Bildästhetik immerhin macht aus dieser Einseitigkeit ein Prinzip. Die Kamera bleibt unaufdringlich, die Farben kräftig, die Ausleuchtung gestattet kaum Unschärfe, etwa wenn Florence per Fähre den Ort erreicht und die Szene etwas von der Ankunft eines Engels in der Finsternis erhält. Das exzellent organisierte Szenenbild besorgt ein genaues Gefühl für den Raum, sodass nie ein Zweifel aufkommt, wo man sich aufhält und wer wo hingehört.

Die Pointe der Konfiguration ist, dass der Film eine andere Hauptrolle hat, als sein Titel andeutet. Gewiss ist Florence über weite Strecken die Fokusfigur, doch ihr Charakter bleibt verschlossen. Sie hat ein gutes Herz, ein Ziel und die Courage, es in Angriff zu nehmen. Auf der anderen Seite handelt Mrs. Gamart als ebenso verschlossene Person, die bis zum Ende kein Gramm Milde zeigt. Auch der Dichter am Ort, Milo North, verkörpert seine Haltung blank. James Lance spricht die Rolle mit einer weichen, fast konturlosen Stimme, in der die Wörter ineinander verschwimmen und die man, entsprechend dem Charakter, nicht zu fassen bekommt. Warum er sie, fragt Florence, verraten habe. Es gibt kein Warum, antwortet er. »Sie haben mich gefragt, und ich habe es gemacht.« Wahrscheinlich ist die opportunistische Haltung nie prägnanter formuliert worden, nie aber auch so unzulänglich. Milo ist die blanke Leere und Florence also nicht dadurch entgegengesetzt, dass er, wie Mrs. Gamart, eine konträre sittliche Idee vertritt, sondern indem ihn gar keine Idee antreibt. »Bei dieser Art von Geist«, heißt es über ihn, »kann man nie sicher sein, ob er eine ganze Welt in seinen Worten verbirgt oder gar nichts.«

Als geheime Hauptfigur des Films entblättert sich Mr. Brundish, der alte Einsiedler und Büchernarr, der einen Eskapismus pflegt gegen Zustände, an denen er nichts ändern kann. Seine Haltung ist komplexer, damit auch widersprüchlicher. Man erhält tatsächlich Einblick in sein Inneres, und sein Charakter entwickelt sich. Das Gesellschaftliche scheint dem alten Herrn auf eine so kauzige Weise suspekt, dass er Kuchen und Corned Beef zum Tee serviert, so gut wie nie sein Anwesen verlässt (um das ein stets heulender Wind weht wie in »Wuthering Heights«) und grundsätzlich die Rückseiten seiner Bücher abreißt, weil ihn die Autorenfotos stören. Obgleich er am gesellschaftlichen Verkehr nicht teilnimmt, ist er stets informiert, weil er, wie Sherlock Holmes, die Kinder des Ortes als eine Art Netzwerk nutzt. Als Florence in sein Leben tritt, scheint er ein zweites Mal geboren zu werden; er gewinnt verlorene Verantwortung und alten Mut zurück. Ihretwegen kann er wieder hoffen und hat wieder Grund dazu. Der langjährige Rückzug von der Gesellschaft hat den Durst nach praktischem Wirken nie löschen, allenfalls verdecken können. Erkenntnis mag wichtig sein, sagt er, aber etwas verstanden zu haben, macht auch faul. Indem Mr. Bundish Florence zuliebe das Haus verlässt, leistet er genau jene nötige Konterarbeit, von der die ersten 30 Sekunden des Films handeln. Der alte Mann geht, nicht ohne den Preis zu zahlen, in die Welt und wird wieder erwachsen.

»Der Buchladen der Florence Green«, Spanien, Großbritannien, Deutschland 2017. Regie und Drehbuch: Isabel Coixet; Darsteller: Emily Mortimer, Bill Nighy, Patricia Clarkson. Länge: 110 Minuten. Kinostart: 10. Mai.

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