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- Mit Marx durch den Film
Nieder mit der Schwerkraft
Neu im Kino: »System Error« von Florian Opitz
Taxiert man die Bourgeoisie nach ihrem Unterhaltungswert, gilt immer noch: America First. Es fällt jedenfalls schwer, anderswo Männer wie Anthony Scaramucci zu finden, die den Charme eines Heiratsschwindlers, die rhetorische Kunstfertigkeit eines Trickbetrügers und das demagogische Geschick eines rechtspopulistischen Fake-News-Produzenten in einer Person vereinen. International bekannt vor allem wegen seines kurzen Gastspiels als Kommunikationsdirektor des Weißen Hauses im Sommer vorigen Jahres, verfügt Scaramucci, der unter anderem für Goldman Sachs arbeitete und einen eigenen Investmentfonds leitete, zwar nur über ein Vermögen von höchstens 65 Millionen Dollar, spielt also in der Bezirksliga der Bourgeoisie. Doch wirkt die Dreistigkeit, mit der er gegen Ende von »System Error« den Kapitalismus als Spiel für Abenteurer preist, nachdem er die ihn aufsuchenden Journalisten wegen ihrer seiner Ansicht nach schäbigen Kleidung verspottet hat, geradezu erfrischend. Er mag ein Gangster sein, aber er weiß es und hat seinen Spaß.
Deutsche Spitzenmanager, deren Geschäfte keineswegs seriöser sind, ziehen es hingegen vor, sich als fleißige Verwalter zu präsentieren, die in einem System ihre Pflicht tun, das so ist, wie es nun einmal ist, und anders auch nicht sein kann. Markus Kerber, langjähriger Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, gibt dem kapitalistischen Wachstum sogar den Rang eines Naturgesetzes und setzt es mit der Schwerkraft gleich. Da wirkt Anthony Scaramucci fast schon wieder seriös.
Schließlich bedarf es keines besonderen Wissens, um zu erkennen, dass die endlichen Ressourcen der Erde kein unendliches Wachstum ermöglichen können. Kaum zu leugnen ist auch, dass nominelles Wachstum, wenn es etwa auf dem Handel mit Finanzderivaten beruht, allenfalls das Leben der Scaramuccis schöner macht, aber kein Gradmesser für eine höhere Lebensqualität ist. Florian Opitz präsentiert in »System Error« einen kurzen historischen Exkurs über Entstehung und Verbreitung der Wachstumsideologie, den Schwerpunkt des Dokumentarfilms bilden aber die Interviews mit Managern und Unternehmern, die mit Aussagen des Wirtschaftswissenschaftlers und Wachstumskritikers Tim Jackson konfrontiert werden.
Neben den üblichen Verdächtigen aus dem Westen kommen auch brasilianische Agrarindustrielle und Eric Chen, der Präsident von Airbus China, zu Wort. Unterschiedlich in Stil und Präsentation - in Brasilien ist es für einen Unternehmer noch politisch korrekt, über den lästigen Regenwald zu schimpfen -, sind sie sich doch einig darüber, dass Wachstum sein muss. Das ist wenig überraschend, denn ein Wachstumskritiker kann in einem Unternehmen ebenso wenig aufsteigen wie ein bekennender Atheist in der Kirche. Dem zweifachen Grimme-Preisträger Opitz gelingt es aber, die Irrationalität des modernen Geschäftslebens einzufangen, etwa im Hochfrequenzhandel, dem Aktienhandel per Computer. Ökonomisches Wissen und Kenntnisse über die Firmen sind hier irrelevant, es zählt allein das geeignete Programm, das Kursschwankungen in Sekundenbruchteilen nutzen kann. Hier braucht man nicht einmal mehr den ungebrochenen Fortschrittsglauben der Industriellen, die zumindest vorgeben, ihr Wirken diene dem Wohl der Menschheit
Opitz führt mit Zitaten von Karl Marx durch den Film, für eine Koproduktion mit öffentlich-rechtlichen Sendern ist das gewagt genug. Allzu verwegen wäre es wohl gewesen, eine Alternative zu präsentieren, schon gar eine über den Kapitalismus hinausweisende. Dennoch liegt hier eine Schwäche des Films. Opitz verzichtet darauf, den »grünen Kapitalismus« zu thematisieren, also die Vorstellung, mit erneuerbaren Energien und ressourcenschonender Produktion ließe sich der kapitalistische Fortschritt retten. So dubios dieses Versprechen ist - darauf nicht einzugehen, lässt eine argumentative Lücke.
Überdies ist die Konzentration auf das Wachstum problematisch, wenn keine Alternative aufgezeigt wird. Opitz predigt keine Ethik des Verzichts, auch der Wachstumskritiker Jackson weist darauf hin, dass ein großer Teil der Menschheit keinen ausreichenden Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Konsumgütern hat. Offensichtlich ist auch, dass es keine gute Idee ist, immer mehr Mastfarmen im brasilianischen Regenwald zu errichten. Doch was tun? Fleisch so hoch besteuern, dass Arme es sich nicht mehr leisten können? Eine Produktionsgrenze verfügen und rationieren? Und was wird aus den Beschäftigten der Mastbetriebe?
Es kann wenig Zweifel daran bestehen, dass ein Wachstumsstopp - wie auch immer er zustande kommen könnte - verheerende Auswirkungen auf Lohnabhängige und Unterschichten hätte, wenn die Produktionsmittel in Privatbesitz bleiben. Die Scaramuccis dieser Welt werden auf ihren Reichtum schließlich nicht verzichten, sondern ihn weiter mehren wollen.
Karl Marx hat zu dem Thema einiges mehr zu sagen, als im Film zitiert wird. »System Error« verdeutlicht zumindest, dass man auf die Selbstheilungskräfte des Kapitalismus vergebens hofft, aber ein »Weiter so« desaströs ist - ein guter Einblick in die Realität und Irrationalität des zeitgenössischen Kapitalismus, bei dem Sie nicht nur die Schwerkraft im Kinosessel halten wird.
»System Error«, Deutschland 2018. Regie und Drehbuch: Florian Opitz, 95 Minuten, Kinostart: 10. Mai.
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