Auf zerfetztem Asphalt lassen sich keine Rennen fahren
Das Friedensfahrtmuseum in Kleinmühlingen erinnerte mit vielen Altstars an den ersten Start der Internationalen Radrundfahrt vor 70 Jahren
»Von Ferne grollt Donner. Heulend pfeift der Sturmwind und fegt über die weitflächigen Ruinenfelder. Was steht eigentlich noch von dem alten Warschau? Die Vergangenheit liegt grausig vor mir.« So beschrieb der Jugoslawe August Prosenik den Tag vor dem Start zur ersten Friedensfahrt im Jahr 1948. Er sollte das Rennen von Warschau nach Prag wenige Tage später sogar gewinnen. In der Gegenrichtung siegte sein Landsmann Aleksander Zorić. Zwischen 1948 und 2006 bewegte die Friedensfahrt als größtes Amateur-Etappenrennen der Welt Millionen Menschen in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR - wobei nach der Wende auch Profis mitradeln durften. Zum letzten Mal rollte das Peloton vor zwölf Jahren über die Landstraßen. Das ist lange her, vergessen ist es aber nicht.
In das kleine Bördedorf Kleinmühlingen mit seinen 700 Einwohnern strömen Jahr für Jahr Tausende aus der ganzen Welt. Ziel ihrer Ausflüge ist das von Horst Schäfer und seinem Verein liebevoll gestaltete Friedensfahrtmuseum mit mehr als 10 000 Exponaten. Der Himmelfahrtstag bot nun eine willkommene Gelegenheit, um den 70. Jahrestag der ersten Friedensfahrt, das 60. Jubiläum des ersten WM-Siegs von Täve Schur und die runde 50 vom Friedensfahrtsieg des Berliners Axel Peschel zu feiern. 500 Fans drängten sich durch die Räume und staunten über das Rad Paul Dinters aus dem Jahr 1951, über Schurs Siegerkranz von 1955 und einen Pokal von Gainan Saidchuschin aus der sowjetischen Mannschaft. Der stets lustige »Sonnenkönig« hatte die Course de la Paix 1962 gewonnen.
Zur diesjährigen Feier war unter anderem Alexander Awerin aus dem ukrainischen Lwiw angereist. »Ich bin beeindruckt, dass die Friedensfahrt weiter in Erinnerung gehalten wird. Ich werde ein paar meiner Souvenirs nach Kleinmühligen schicken«, versprach der Sieger von 1978. Auch ein paar Niederländer kamen in die Börde. Mit den ehemaligen Friedensfahrern Hubertus Liebregts und Franciscus Francissen sowie den 100-Kilometer-Weltmeistern Gerrit de Vries und Tom Cordes war fast eine komplette Mannschaft angereist. »Die Friedensfahrt war ein eindrucksvolles Rennen. Es lohnt sich, daran zu erinnern, schon weil das Wort Frieden darin enthalten ist«, sagte Cordes.
Physiotherapeut Dieter »Eule« Ru thenberg machte es sich in einer Runde mit Axel Peschel, Sprintstar Rainer Marks, Kletterkünstler Siegfried Huster und Günter Hoffmann gemütlich. Mit ihnen war er in der DDR-Mannschaft von 1968 noch selbst zusammengefahren. Es fehlte nur der erkrankte Dieter Mickein. Klaus Ampler, der Sechste im Team, ist schon verstorben. Huster reizen immer noch die Berge: Er starte noch jedes Jahr beim Glocknerkönig, einem Jedermannrennen hinauf zum Großglockner auf 2445 Meter Höhe. »In meiner Altersklasse gewinne ich jedes Jahr«, schmunzelt der 74-Jährige.
Auch Hoffmann schwingt sich noch regelmäßig aufs Rad, kann aber über den deutschen Radsport nicht mehr jubeln. »Jedermannrennen sind ja schön, aber nicht alles. Der Radsport in Deutschland wurde nicht nur mit der Friedensfahrt ausradiert. Im Osten rollt fast nichts mehr. Wir brauchen Vorbilder für die Jugend, nicht nur im Fußball. Eine Deutschlandtour um den Kirchturm von Stuttgart ist lächerlich«, kritisierte der Leipziger. In die gleiche Kerbe schlägt auch der Olympiasieger, Weltmeister und vierfache Friedensfahrtsieger Uwe Ampler: »Ich verstehe nicht, warum sich die osteuropäischen Länder so zurückhaltend zeigen. Eine vierte dreiwöchige Tour durch Osteuropa könnte der Kalender durchaus verkraften.«
Täve Schur, wie immer umringt von Dutzenden Autogrammjägern, kam aus Tschechien nach Kleinmühlingen. »Ich habe dort Remco Evenepoel, den belgischen Sieger der Friedensfahrt 2018, geehrt und in Terezin ein Friedensfahrtmuseum eröffnet«, berichtete er. Bei dem U19-Rennen halten die Veranstalter am Namen und an den Symbolen der Fahrt fest. Diesmal waren 144 Fahrer aus 20 Ländern am Start. »Der Wunsch nach Frieden ist gerade unter uns Radsportlern groß. Auf von Bomben zerfetztem Asphalt lassen sich keine Rennen fahren«, so Schur.
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