Die Alten von Ciudad Juárez wehren sich

Senioren in der mexikanischen Industriemetropole schaffen sich mit Hausbesetzungen Perspektiven

  • Kathrin Zeiske, Ciudad Juárez
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Aktion wurde einen Tag vorher über die sozialen Medien angekündigt. »Wir besetzen ein Haus.« Am nächsten Morgen hatte sich ein Dutzend freiwillige Helfer mit Besen, Schaufeln und Schubkarren eingefunden, um das leer stehende Gebäude von Schutt und Müll freizulegen. Doch keine jungen Punks beanspruchen das große grüne Eckhaus mit den knorrigen Pinien davor für sich. Es ist eine Handvoll Menschen mit weißen Haaren und sonnengegerbten Gesichtern, manche von ihnen mit Gehstock in der Hand. »Wir wollen ein Tageszentrum mit Aktivitäten für alte Menschen schaffen; eine Anlauf- und Beratungsstelle«, erklärt die Aktivistin Eva Ronquillo und wischt sich mit einem Tuch den Schweiß aus dem Gesicht.

Über den Eingang haben die Alten ein Banner gehängt. »Veterania existe«, (Alter existiert) nennen sie ihre Initiative. Ihr Emblem ist die Wüstenrose, bizarre Kristallgebilde, die die Zeit aus Sand­, Wind und Wasser formt und die in den Dünen außerhalb der Stadt zu finden sind. In den Straßenzügen um das neue Besetzungsobjekt sind viele Häuser verlassen. In der Gewalt des sogenannten »Drogenkrieges« und der militärischen Besetzung von Ciudad Juárez von 2008 bis 2012 wurden Geschäfte und Familien von hier vertrieben. Geblieben sind vor allem arme und alte Menschen, viele von ihnen auf sich gestellt. »Der Staat vergisst die Alten«, bemerkt Ronquillo. »Sollte uns die Stadtregierung räumen, werden wir die unangenehme Frage stellen, was sie denn für Alternativen anbietet.«

Statistisch gibt es immer mehr Senioren in Ciudad Juárez, das in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Industriemetropole von 1,3 Millionen Menschen herangewachsen ist. Der Großteil der Familien ist durch die Schichtarbeit in den Montagefabriken an der Grenze zu den USA geprägt. Sie sind irgendwann aus dem grünen Süden Mexikos in die aride Wüste mit extremen Klimaverhältnissen migriert. Zeit für Kinder, Kranke und Alte gibt es neben dem verzehrenden Fabrikalltag und den langen Arbeitswegen durch die weit ausgedehnte Stadt nicht. Das Geld reicht kaum zum Überleben. Wer sich im Alter noch selbstständig bewegen kann, sucht oftmals eines der zahlreichen Casinos in der Stadt auf. Hier mischt sich die Notwendigkeit einer Beschäftigung mit der Hoffnung auf Gewinn.

»Ciudad Juárez bietet nur ein Alter in Armut und Krankheit«, sagt Berenice Mena. Die studierte Sozialarbeiterin hat vor einem Monat frustriert ihren Job in der staatlichen Altenpflege gekündigt. Die Maquilawirtschaft mache die Menschen körperlich kaputt und verurteile sie darüber hinaus zu einem Lebensabend ohne Altersversorgung. In Ciudad Juárez gibt es mittlerweile 86 000 Menschen über 60 Jahren. Die Verstädterung und ein flächendeckendes öffentliches Gesundheitssystem haben in Mexiko dazu geführt, dass mehr als ein Zehntel der Bevölkerung das Rentenalter erreicht. Bis 2050 soll sich die Zahl verdoppeln.

Für Berenice Mena ist das Altern in Würde ein Herzensthema. »Doch die Beschäftigung mit alten Men­schen lässt einen ohnmächtig zurück. Die Vernachlässigung bettlägeriger und dementer Personen durch Familien und Staat ist himmelschreiend. Und die wenigen Altenheime sind personell völlig überfordert.« Hier fänden viele Menschenrechtsverletzungen statt. Die Bewohner würden medikamentös ruhig gestellt oder sogar ans Bett gefesselt. »Doch es gibt kaum Alternativen. Wo soll ich jemanden hinbringen? Und wenn ich jemanden anzeige, wer folgt dann nach?« Ihre Ideale, die sich in der Interamerikanischen Menschenrechtskonvention von 2015 widerspiegeln sieht sie in den juarensischen Realitäten nicht vertreten. Das Abkommen setzt Autonomie im Alter als Recht voraus, das Lebensqualität verspricht. Die Anfang 30-Jährige mit dunklen Locken und Turnschuhen will sich in Zukunft zivilgesellschaftlich für alte Menschen engagieren. Die Nöte der Organisa­tionen, die versuchen, gerontologischen und humanen Maßstäben zu folgen, kennt sie bestens.

So wie die des Altersheims »Mi Esperanza« (Meine Hoffnung), 30 Kilometer außerhalb der Stadt. Dort, wo die Überlandstraße an Autoschrottplätzen, Tankstellen und Burrito-Restaurants vorbeiführt. Auf dem letzten Gelände vor der Wüste säumen grüne Bäume die ockerrot gestrichenen Gebäude. Hier haben vor elf Jahren die Eltern des evangelikalen Pastors Miguel Olmedo ein Heim gegründet, das von Spenden getragen wird. Die Familie lebt gemeinsam mit den alten Menschen, die aus Krankenhäusern hergebracht werden.

»Viele haben sich zuvor auf der Straße durchgeschlagen«, berichtet der junge Pastor mit Baseballkappe und T-Shirt. Die Anzahl der Männer übersteige die der Frauen bei weitem. »Die Männer waren oft jahre- und jahrzehntelang als Migranten in den USA.« Als Geldverdiener fernab der Familie oder auch als anwesende machistische Familienoberhäupter hätten sie nie eine enge Beziehung zu ihren Kindern entwickelt. Frauen bleiben dem hingegen im Alter nicht so schnell alleine. Die meisten der Alten dösen auf Sofas im Aufenthaltsraum des Heimes vor sich hin, in einem holzverkleideten Wohnzimmer mit Kamin. Im Winter wird es eisig kalt hier draußen in der Wüste. Junge Leute helfen zur Toilette, sitzen neben den Alten.

Draußen buhlen zwei Männer im Rollstuhl um Aufmerksamkeit. Der eine repräsentiert im karierten Hemd und mit Stiefeln und Gürtelschnalle den Modegeschmack des Nordens. Der andere trägt das signierte T-Shirt einer psychedelischen US-Band der 1970er. Seine Beine wurden infolge von Diabetes amputiert. Beide quatschen wie Wasserfälle, schwadronieren über vergangene Liebesgeschichten und Arbeitsaufenthalte in Texas, lachen über sich selbst. »Wir machen einen Wettbewerb, wer der Verrückteste von uns ist: Er hat gewonnen!«

Pastor Olmedo grinst nur. Er kennt die Geschichten auswendig. »Was den Alten am meisten fehlt, sind Besucher. Jemand, der mal etwas Neues erzählt.« Nur drei haben Familie, drei sind dem Wohlfahrtsamt unterstellt, die übrigen sind ganz auf sich gestellt. »Wenn jemand stirbt, müssen wir schauen, wie wir die Beerdigung bezahlen. Bei allem, was diese Menschen im Leben durchgemacht haben, stimmt es traurig, sie anonym bestatten zu lassen.«

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