- Politik
- Folgen der Wiedervereinigung
Historiker: Arbeit der Treuhand wirkt bis heute nach
Phase der Umwandlung des DDR-Eigentums sei eine »chaotische Situation«gewesen, »in der man sehr viel improvisiert hat«
Grimma. Das hohe Tempo der deutschen Wiedervereinigung hat in Ostdeutschland nach Einschätzung des Historikers Marcus Böick bis heute weitreichende Folgen. Ein Großteil der ehemaligen DDR-Betriebe sei nach der Wende innerhalb von nur zwei Jahren privatisiert worden, sagte Böick am Montagabend in Grimma (Sachsen). Das habe dazu geführt, dass »niemand mehr den Überblick hatte«, die Menschen sich überwältigt fühlten und bis heute Probleme mit diesen Umbrüchen hätten, so der Forscher.
Böick hat in den vergangenen zwei Jahren im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums eine 800-seitige Forschungsarbeit zur Treuhand-Anstalt erstellt. Bei der Veranstaltung in Grimma mit Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) stellte der Zeitgeschichts-Forscher von der Ruhr-Universität Bochum einige Ergebnisse vor.
Die Treuhand-Anstalt mit westdeutschen Managern an der Spitze war 1990 eingesetzt worden, um das Volkseigentum der DDR in die gesamtdeutsche Marktwirtschaft zu überführen. Zu Spitzenzeiten hatte sie laut Böick rund 4.000 Mitarbeiter. 1994 wurde die Anstalt aufgelöst. Böick zufolge produzierte sie etwa 70 Regalkilometer an Akten, die seit rund einem Jahr am Bundesarchiv zugänglich gemacht werden.
Böick beschrieb die Phase der Umwandlung des DDR-Eigentums als »chaotische Situation, in der man sehr viel improvisiert hat«. In Ost wie West seien die meisten Menschen von dem Szenario überrumpelt worden, das DDR-Volkseigentum so schnell wie möglich in die Marktwirtschaft zu überführen. Es habe keinen Masterplan gegeben, erklärte Böick. Man müsse eingestehen, »dass wir hier eine deutsch-deutsche Überforderung hatten« und »großes Chaos«.
Laut Böicks Forschungsergebnissen wurden von rund 8.500 vormaligen DDR-Betrieben etwa zwei Drittel privatisiert. Etwa drei Viertel der neuen Eigentümer seien Westdeutsche gewesen, so der Historiker. Rund 30 Prozent der DDR-Betriebe seien abgewickelt, ein geringer Teil kommunalisiert worden. Etwa 75 Prozent der zuvor rund vier Millionen Beschäftigten der DDR-Kombinate seien nach Abschluss der Arbeit der Treuhand arbeitslos gewesen, betonte Böick.
Köpping sagte, dass sich viele Menschen in Ostdeutschland als »Bürger zweiter Klasse« fühlten, hänge »mit diesen Vergangenheiten« zusammen. Neben der Arbeit der Treuhand müssten auch die fehlende Anerkennung der Lebensleistungen vieler Menschen oder die Problematik um die Renten früherer DDR-Bürger aufgearbeitet werden. Ihr gehe es nicht darum, Schuldige zu suchen, sondern um die Frage, »wie können wir aufarbeiten und damit Zukunft gestalten«, betonte die Ministerin. Die Politik müsse hier Lösungen und eine Vision entwickeln, fügte sie hinzu. epd/nd
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