Fliesusen und Pfingstochsen
Das christliche Hochfest überlagerte prähistorische Kannibalismusrituale
Was hat ein Pfingstochse, was haben die vielen Bräuche zu Pfingsten, die Pfingsttreffen der Jugend und die zahlreichen Flurnamen wie Pfingstberg, Pfingstgehege oder Pfingstrasen mit der christlichen Deutung des Festes, der Niederkunft des Heiligen Geistes, zu tun? Eigentlich gar nichts. Zu Pfingsten finden in der katholischen Kirche Firmungen statt, eine Art Jugendweihen, bei denen junge Leute vom Bischof gesalbt werden und so den Heiligen Geist empfangen.
Nach der Apostelgeschichte haben sich 50 Tage nach Ostern, am jüdischen Erntedankfest Schawuot, Apostel und Jünger Jesu in Jerusalem versammelt. Plötzlich sei ein gewaltiges Brausen entstanden, von dem das ganze Haus erfüllt wurde. »Und es erschienen ihnen Zungen, die sich zerteilten, wie von Feuer und es setzte sich auf jeden von ihnen. Und sie wurde alle mit dem heiligen Geist erfüllt und fingen an, in anderen Zungen zu reden, wie der Geist es ihnen auszusprechen gab.«
Reinhold Andert ist Liedermacher, Autor und Historiker. Der Text ist in Überarbeitung seinem Buch »Heilige Lanzen« entnommen, 2013 im Dingsda Verlag Leipzig erschienen.
Seitdem hat der heilige Geist leider nie wieder jemandem auf diese Art Fremdsprachen beigebracht. Auch demjenigen nicht, der wie ich römisch katholisch getauft und gefirmt wurde. Warum, weiß ich nicht. Unverständlich ist mir auch, wie man von 50, altgriechisch »pentakoste«, auf das Wort »Pfingsten« kommen kann. Das taucht aber überall als Erklärung auf. Pfingsten hat aber auch ohne heiligen Geist etwas mit dem Christentum zu tun. Allerdings in einer völlig anderen Beziehung, als es in der Bibel steht.
Um das zu erklären, ist ein kleiner Umweg nötig: Als die Thüringer Heimatforscherin Luise Gerbing (1855 bis 1927) Anfang des vorigen Jahrhunderts die Flurnamen des damaligen Herzogtums Gotha sammelte, stieß sie auf 18 Flurstücke mit der Vorsilbe »Pfingst-«. Ihr fiel ferner auf, dass meist das danebenliegende Gelände mit der Vorsilbe »Kar-« bezeichnet war, wie Karweg, Karnecke oder einfach Karn. Viele diese Kar- und Pfingst-Gelände waren überaus beliebte Ausflugsziele. Vor allem zu Pfingsten gab es dort jährlich Volksfeste mit Bratwurst, Bier, Musik und Tanz, zu denen die Bauern der ganzen Gegend kamen. Verbunden waren diese Pfingstfeste mit allerlei Bräuchen. Der wohl bekannteste war der eines mit Blumen, Glocken, bunten Bändern und Stroh aufwendig geschmückten Ochsen, dem bis heute sprichwörtlichen »Pfingstochsen«, der sich übermäßig herausgeputzt habe. In ihrer Kindheit, erzählten die Bauern, wurde dieser Ochse während des Festes geschlachtet, gebraten und gemeinsam verzehrt.
Luise Gerbing wunderte sich allerdings, dass die Bauern bei ihren Pfingsterklärungen immer nur von »Pingsten« redeten, also das »f« ausließen: Pingstrasen, Pingstgehege und so weiter. Sie erklärte sich das mit Mundfaulheit - was aber ein Irrtum war. Der erste, der das erkannte, war der Thüringer Sprach- und Heimatkundler Erich Röth (1895 bis 1971). Röth hatte sich über viele Jahre hindurch mit der Sprache seiner Mitbewohner in seinem Dorf Flarchheim - zwischen Mühlhausen und Bad Langensalza - beschäftigt. Ihm fiel auf, dass die Alltagssprache der Bauern viele Vokabeln enthielt, deren Wortstämme mit dem Deutschen nichts zu tun haben schienen.
Röth stellte aber Verbindungen zum Altgriechischen und zu den baltischen Sprachen Lettisch und Litauisch her, denen die Sprachwissenschaft viele Wortwurzeln aus dem Indogermanischen nachsagt, der Sprache also der neolithischen Ackerbauern und Viehzüchter, die vor etwa 7000 Jahren ins heutige Deutschland kamen. Hatten die Flarcheimer Bauern die uralte Sprache teils am Leben erhalten? Das schienen Röth nicht nur Begriffe der bäuerlichen Arbeit, des Hausbaues, für Speisen oder für verschiedene Kinderspiele zu belegen, sondern auch viele Flurnamen.
Zwischen Flarchheim und dem Nachbarort Heroldishausen liegt nun an einem »Roter Berg« genannten Hügel ein »Pingst«- und daneben ein »Karn«-Flurstück. In einer Urkunde aus dem Jahre 1366 wird dieses Gelände als »Wofeleibis Wiese« bezeichnet. »Wofe-leibis« ist ein altdeutsches Wort. »Wouf« heißt Klage, Jammergeschrei, das Verb »woufan« oder »woufen« steht für Wehklagen, heulen und jammern. Der zweite Wortteil »Leib« - im Genitiv »Leibis« - steht für Überlebende, die Zurückgelassene, Erben. »Wofeleibis Wiese« hieße demnach so etwas wie »Wiese der wehklagenden und jammernden Hinterbliebenen«.
Der Schreiber dieser Urkunde muss ein fremder Markscheider - eine Art Vermessungsingenieur im Bergbau - gewesen sein. Er hatte sich von den Einheimischen die Bedeutung des für ihn unverständlichen »Pingst-« erklären lassen und diesen Begriff dann ins Altdeutsche übersetzt. »Pingst« ist indogermanisch und hat sich im Lettischen zum Beispiel in »pinkset«, »kläglich weinen«, erhalten. Der am Fuße dieses Hügels gelegene »Pingstflack« bedeutet also »Fleck der kläglich Weinenden«. Der Markscheider hatte demnach genau übersetzt.
Warum aber geweint und geklagt wurde, erklärt der zweite Flurname »Kar-« beziehungsweise »Karn«, bis heute erhalten in den Ausdrücken »Karwoche« und »Karfreitag«. Im Litauischen heißt er, noch nicht lautverschoben, »Gar-« und bedeutet in den verschiedenen Wortverbindungen wie »gar-be« »garb-styti« und ähnlich »Platz der Anbetung und Verehrung, des Ruhms, der Lobpreisung« oder »ehrender Nachruf auf einen Verstorbenen«. Da nun auf keinem dieser Pingst- und Kar-Gelände frühgeschichtliche Friedhöfe gefunden wurden, liegt eine Erklärung nahe, die für uns heute sehr grausig klingt: Diese Orte waren Stätten eines kultischen Kannibalismus, an denen Menschen getötet, bejammert und auch verspeist wurden.
Bei seinen Ausgrabungen in den Kulthöhlen des Kyffhäusers wies der Jenaer Archäologe Günther Behm-Blancke (1912 bis 1994) nach, dass Menschenopfer und ritueller Kannibalismus während der Bronzezeit üblich waren - nachzulesen in seinem Buch »Höhlen, Heiligtümer, Kannibalen«. Die Opfer waren dabei wohl weder Fremde noch Feinde, sondern Bewohner des eigenen Dorfes, Mitglieder der eigenen Sippe, deren Tod man auch bejammerte.
In seinen Untersuchungen fand Erich Röth Hinweise darauf, wer die Opfer waren. In den Auswahlverfahren, die sich in einigen Spielen der Kinder und Jugendlichen erhalten haben, wie dem »Diggenspiel« oder dem »Kautenschlagen«, wurden wohl die Verlierer als Opfer bestimmt - zuerst scheint es Röth zufolge die Schwächsten getroffen zu haben, später vor allem junge Mädchen. In dem in Flarchheim gebräuchlichen Wort »Fliesuse« sind zwei indogermanische Wortwurzeln erhalten, die ein verängstigtes Mädchen bezeichnen, das sein Schicksal kennt.
Der Widerspruch zwischen der Tötung naher Angehöriger, vielleicht einer Tochter, und der Trauer darüber findet sich in vielen Mythen. Diese Praktiken lassen sich wohl nur nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass an ein Weiterleben nach dem Tode geglaubt wurde. Aber auch das erklärt die Menschenopfer nicht vollständig, denn an das Leben nach dem Tod wird ja noch heute in dem allermeisten Religionen geglaubt - und in ihnen allen gilt seit Langem das Töten als schwerstes Vergehen.
Das Ende des Menschenopfers und des Kannibalismus wird in vielen Geschichtstraditionen als einschneidender Befehl des jeweiligen Gottes überliefert - in der griechischen Mythologie etwa im Sagenkreis um Iphigenie. In der alttestamentarischen Überlieferung verbot Jehova durch einen seiner dem Urvater Abraham, seinen Sohn Isaak zu opfern, nachdem dieser Gottes Befehl, ihm das Liebste zu opfern, zunächst ganz richtig verstanden hatte. In der germanischen Mythologie lässt sich dieses Motiv womöglich in der Grundschicht des Märchens von Hänsel und Gretel erkennen.
Das Weiterleben des Opfers nach dem Tod ist für die Angehörigen zwar ein Trost, Trauer und Schmerz über den Verlust sind aber ebenso gewollt. Das gehört zum Charakter eines Opfers. Noch heute verbindet sich das mit dem Begriff »ein Opfer bringen«. Um aber diesen Kult verstehen zu können, müsste man in der Lage sein, sich in damalige Situationen hineinzuversetzen. Das Leben der Menschen war geprägt von Ohnmacht und Angst. Erde, Sonne, Mond, Sterne, Regen, Blitz, Donner, Schnee, all das war verbunden mit außerirdischen Mächten, Geistern und Göttern, denen man sich hilflos ausgeliefert sah. Mal waren die Naturgewalten gut und freundlich, mal böse und zürnend. Ob die Felder gediehen, das Vieh heranwuchs oder ob es Missernten, Überschwemmungen und Seuchen gab, hing von ihnen ab. Man musste sich gut mit ihnen stellen, sie besänftigen, sie bestechen, ihnen etwas geben. Wertlose Opfer hätten nichts genützt, ja die Götter vielleicht beleidigt. Je wertvoller das Opfer, desto wirkungsvoller war es.
Jüngere Forschungen haben ergeben, dass Menschenopfer in archaischen Gesellschaften um so öfter vorkamen, je mehr sich diese hierarchisch gliederten. Demnach wäre auch ein Aspekt der Machtsicherung zu beachten. Der teilweise Verzehr der Opfer hingegen ist eher auf der Ebene des Magischen, Religiösen zu verstehen: Besonders nahe kam man den Schicksalsmächten, wenn man sich mit ihnen durch das Opfer leiblich verband. Man aß also Teile des Opfers, erst von den geopferten Menschen, später von den Opfertieren.
Dieser rituelle Kannibalismus ist so unverständlich nicht. Noch heute wird er jeden Tag millionenfach zelebriert. Allerdings nur noch symbolisch, indem Christen den Leib und das Blut Jesu Christi in Form einer Hostie - protestantisch mit einem Schluck Wein oder Traubensaft - verspeisen. Auch zu Pfingsten.
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