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Einmischen? Gönn es dir!

Lalia wurde Opfer eines rassistischen Übergriffs. Die Mitreisenden im Bus ignorierten sie

  • Johanna Treblin
  • Lesedauer: 5 Min.

Bespuckt, geschlagen, mit Bier übergossen. Lalia saß im Bus 255 auf dem Weg Richtung S-Bahnhof Pankow, als ein betrunkenes Paar einstieg. »Adolf Hitler lebt noch«, sagte der Mann. Der macht schlechte Witze, dachte sich Lalia, die aus Gründen des Selbstschutzes ihren Nachnamen nicht nennen will. Dann pöbelten sie einen Mann an, der neben ihr saß. Das Paar war laut. Lalia drehte sich zu ihnen. Jetzt wandten sie sich der 20-Jährigen zu. »Fotze«, beschimpfte die Frau sie. Der Mann sagte: »Guck mich an, ich bin ein Arier.« Dann bespuckte die Frau die junge Afroeuropäerin.

»Ich habe gar nichts gesagt«, erzählt Lalia ein paar Tage später Helga Seyb von ReachOut, einer Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt. »In der Situation habe ich mich einfach hilflos gefühlt.« Sie habe sich nicht einmal getraut, ihr Handy aus der Tasche zu holen, um damit die Polizei anzurufen. Lalia fühlte sich eingesperrt, konnte nicht aussteigen. »Die beiden standen vor mir und haben mir den Weg blockiert.«

Der Vorfall ist fünf Tage her, als Lalia bei ReachOut davon erzählt. Je mehr Details sie erzählt, desto aufgewühlter klingt sie. Fünf oder sechs Haltestellen passierte der Bus, das Paar pöbelte weiter. Dann schlug die Frau Lalia ins Gesicht, der Mann schüttete Bier über sie. An der S-Bahnstation Pankow stiegen die beiden aus - aber nicht, ohne mehrfach wieder zurück in den Bus zu steigen und weiter zu schimpfen. »Rein oder raus?«, fragte der Busfahrer schließlich, das Paar ließ von der Tür ab und ging.

Lalia, die hier eigentlich auch aussteigen wollte, blieb sitzen. Erst jetzt wandten sich andere Fahrgäste ihr zu. Ein Mann reichte ihr ein Taschentuch, jemand fragte, ob es ihr gut gehe - nachdem alles vorbei war. »Die haben mich fünf oder sechs Stationen lang allein gelassen«, sagt Lalia. »Das ist für mich immer noch schwer zu fassen.«

Für viele Opfer von Übergriffen ist es fast genauso schlimm, dass sich niemand eingemischt hat, wie die Tat selbst, weiß Helga Seyb aus vielen Jahren Beratung und Unterstützung. »Es ist sehr verletzend.« Darüber hinaus werde der Angriff selbst besser verarbeitbar, wenn man die Mitmenschen auf seiner Seite wisse.

Dass sich Umstehende im Nachhinein nach dem Wohlbefinden der betroffenen Person erkundigen, nennt Seyb eine Ersatzhandlung. »Wer einen Übergriff beobachtet und nichts macht, hat anschließend häufig ein schlechtes Gefühl.« Wer nachher dann doch noch den Mund aufmache, verbessere nur sein eigenes Gefühl, helfe aber der betroffenen Person nur wenig. Seyb erinnert an eine Kampagne von ReachOut aus dem Jahr 2003. An Bahnhöfen und in S-Bahnen wurden Plakate mit der Aufschrift »Handeln? ...man gönnt sich ja sonst nichts« aufgehängt. Darüber hinaus enthielten sie Ratschläge, wie Augenzeugen in Notsituationen reagieren sollen. Es sei nicht einmal notwendig, handgreiflich zu werden, meint Seyb. »Es reicht oft, sich verbal zu äußern, um die Situation aufzulösen.«

Nach dem Vorfall ließ sich Lalia von ihrer Mutter abholen. Sie wollte nicht alleine die Strecke zurückfahren, auf der sie vielleicht wieder den Angreifern begegnen würde. Zusammen gingen sie zur Polizei und zeigten die Täter an.

Mit ReachOut hatte ihre Familie schon früher zu tun. Im November 2016 wurde Lalias Bruder von Neonazis angegriffen. Der damals 17-Jährige wollte mit ein paar Freunden einen Spätkauf betreten, wurde daran aber von vier Männern gehindert. Einer der Männer zeigte den Hitlergruß, die beiden Gruppen gerieten darüber in einen Streit, die Männer traten auf den Jugendlichen ein. Anschließend verschwanden sie. Obwohl die Freunde von Lalias Bruder Personenbeschreibungen abgaben, wurden die Täter bis heute nicht gefasst. Die Mutter der beiden jungen Leute, die Musikproduzentin Sonja Prinz, hängte Plakate in der Umgebung auf, um die Täter auf eigene Faust zu suchen. Doch ohne Erfolg.

Mit Alltagsrassismus hat Sonja Prinz häufig zu tun. »Fast jede Woche kommt eines meiner Kinder nach Hause und erzählt von irgendeinem Vorfall«, berichtet sie. Mal ist es nur die Frage, wo die Kinder »wirklich« herkommen, mal eine alte Frau in der Bahn, die sie rassistisch beleidigt, mal ein unfreundlicher Mann auf dem Spielplatz.

Das verunsichere die Kinder, meint Prinz. Schon vor zehn Jahren gründete sie deshalb den Verein »New Generation Berlin«. In der Schule würden die Themen Kolonialismus und Rassismus zu wenig behandelt, meint Prinz. Ihr Verein bietet vor allem musikalische Workshops, um »das Selbstbewusstsein von Kindern zu fördern«. Prinz will die Kinder zudem ermutigen, auch kleine rassistische Erfahrungen zu melden.

Einmal im Jahr veröffentlicht ReachOut die Zahlen gemeldeter rechter, rassistischer und antisemitischer tätlicher Angriffe des jeweiligen Vorjahres. Im März konnte die Opferberatungsstelle eine zumindest auf den ersten Blick positive Zahl vermeldeten: 2017 hatten die genannten Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr um rund 30 Prozent auf 267 abgenommen. Allerdings waren 2016 mit 380 so viele Angriffe gemeldet worden wie noch nie seit Gründung des Vereins. Seit 2008 waren die Angriffszahlen kontinuierlich gestiegen, von 2014 auf 2015 sogar sprunghaft (179 auf 320). Den Rückgang von 2017 erklärte eine Vertreterin von ReachOut bei der Vorstellung der Ergebnisse damit, dass die AfD seit 2016 im Berliner Abgeordnetenhaus und in den Bezirksverordnetenversammlungen vertreten ist und seit 2017 auch im Bundestag. Auch Neonazis setzten nun ihre Hoffnung auf die parlamentarische Durchsetzung ihrer Interessen. Der Rückgang sei auch deswegen kein Grund zur Entwarnung, weil er ebenso bedeuten könne, dass sich Menschen, die Angst haben, Opfer von Gewalt zu werden, seltener alleine auf die Straße trauen.

Lalias Angreifer wurden gefasst, bestritten die Vorwürfe aber. Die Polizei wird nun Zeugenaussagen aufnehmen. Dann geht es vor Gericht. Für Lalia war klar, dass sie den Vorfall öffentlich machen will. »Es ist wichtig, den Mund aufzumachen«, sagt sie. Und: »Ich will den Menschen zeigen, dass man keine Angst haben muss.«

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