Ästhet, Chronist, Mäzen

Vor 150 Jahren wurde Harry Graf Kessler geboren

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 5 Min.

Er war siebenundzwanzig Jahre alt, als er am 5. November 1895 Seine Majestät beim Jagen erlebte. »Der Kaiser«, schrieb er ins Notizbuch, »sieht im Jagdkostüm unvorteilhaft aus, dick und unförmlich, die abnorm breiten Hüften und das fast weiblich entwickelte Hinterteil fallen im Frack mehr auf als in Uniform.« Sehr viel später, am 4. März 1913, wird er, in London Gast eines großen Dinners, der englischen Königin vorgestellt, die »in Silberbrokat mit einer Krone aus Diamanten und großen Türkisen« verhältnismäßig gut aussah. Dafür wurde das Gespräch ziemlich schwierig. »Ich konnte sie nicht stehen lassen, und sie fand keinen Ausweg aus der Unterhaltung. Jede halbe Minute schläft die Konversation mit ihr ein, und man muss die arme Dame, wie eine abgelaufene Uhr, wieder aufziehen, was aber auch wieder immer nur auf dreißig Sekunden weiterhilft.«

Da sprach einer, der sich auskannte. Der mit Hoheiten frühstückte, sich einen ganzen Vormittag in der dunklen, erbärmlichen Höhle des bewunderten Dichters Paul Verlaine in Paris aufhielt, Nachmittage im ärmlichen Atelier Edvard Munchs zubrachte und abends im Frack zu einer Soiree fuhr. Er, Harry Graf Kessler, geboren am 23. Mai 1868 in Paris, Sohn einer bildschönen irischen Gräfin und eines Schweizer Bankiers (das Gerücht wollte wissen, er habe seine Existenz der Liaison seiner Mutter mit dem Kaiser zu verdanken), streng preußisch erzogen, ausgebildet an Eliteschulen und hochvermögend, hatte Stil und einen unbarmherzigen Blick.

Er war welterfahren wie wenige, zuweilen aber auch blind für die Realitäten, zu Hause in Salons und Kasinos, an Höfen und in der Bohème, immer dabei, wenn irgendwo in Berlin, Paris oder London Maler und Bildhauer ihre Arbeiten vorstellten, befreundet mit Hofmannsthal, Elisabeth Förster-Nietzsche, Rodin und Henry van de Velde, ein Schöngeist, Dandy und Mäzen, Flaneur, Diplomat. Literat und Kunstsammler, elegant und eloquent.

Was wüssten wir von ihm, wenn er nicht eines Tages den Einfall gehabt hätte, ein besonderes Erlebnis schriftlich festzuhalten? Wahrscheinlich wenig, vielleicht auch gar nichts. Er war zwölf Jahre alt, ein etwas altkluges Kind, als er 1880 in Bad Ems den Kaiser sah. Er war beeindruckt und schrieb in einer spontanen Eingebung alles auf. Und fand Gefallen daran. Fortan bilanzierte er regelmäßig, meist in der Nacht, sein Tagwerk, erst im Schulheft, danach in schmalen, saffiangebundenen Taschenbüchern, anfangs mit Bleistift, später mit Tinte. Siebenundfünfzig Jahre lang schrieb er auf, was er getan, was er gesehen oder gesagt hatte und was sonst noch passiert war.

Es wurden gut fünfzig rot gebundene Bände mit fünfzehntausend schwer lesbaren Seiten, von denen kein anderer wusste und die lange unbeachtet in einer Truhe des allmählich verfallenden Schlosses seiner Schwester in Frankreich lagen. Erst Ende der fünfziger Jahre von Kesslers Schwager entdeckt und verkauft, gelangten sie ins Marbacher Literaturarchiv. Einige kamen Jahrzehnte später dazu. Man fand sie in einem Banksafe auf Mallorca, der gewaltsam aufgebrochen wurde, weil die Mietzeit nach fünfzig Jahren abgelaufen war.

Diese Tagebücher sind Kesslers Hauptwerk geworden, das prachtvolle, einzigartige Journal einer ganzen Epoche, Chronik turbulenter, aufwühlender Jahrzehnte, geschrieben von einem kunstsüchtigen, umtriebigen Geist. Seit 2004 hat der Verlag Klett-Cotta nach und nach dieses Tagebuch ungekürzt publiziert. Der seit Jahren ausstehende letzte Band mit den Aufzeichnungen von 1880 bis 1891 soll in diesem Herbst die Edition komplettieren.

Was für ein Leben. Mit sechs brachte Kessler dem kranken Bismarck einen Blumenstrauß ans Bett. Er hat Bücher geschrieben, neben seinen »Notizen über Mexico« eine noch immer lesenswerte, psychologisch grundierte Rathenau-Biografie. Er dichtete an Hofmannsthals »Rosenkavalier« mit, und auch die »Josephslegende«, das Ballett des Richard Strauß, ist ohne sein Mittun, seinen Handlungsentwurf nicht denkbar. Er unterstützte Edvard Munch (der ihn eindrucksvoll porträtiert hat) und Aristide Maillol, hatte Umgang mit Gerhart Hauptmann, Liebermann, Picasso, André Gide, Cocteau, Walther Rathenau und Gustav Stresemann. 1926 tanzte er in seiner Berliner Wohnung mit Josephine Baker, dem Weltstar. Sein Tagebuch verzeichnet rund vierzigtausend Namen.

Kessler zog 1914 als Offizier in den Krieg und kam als Pazifist zurück. 1918 war er, wenigstens für Wochen, erster deutscher Gesandter in Warschau. Er versuchte die Polen mit den Deutschen zu versöhnen und die Deutschen mit den Franzosen, publizierte 1920 seine »Richtlinien für einen wahren Völkerbund«, wurde 1922 Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft und kandidierte 1924, allerdings erfolglos, bei den Reichstagswahlen.

Immer hatte Kessler große Träume, und immer wieder ist er gescheitert. 1906 beendete ein großspuriger Großherzog in Weimar, der sich nur für Uniformen und schnelle Autos begeistern konnte, den ehrgeizigen Versuch, dem verzopften Nest wieder den verlorenen Glanz zu verschaffen. Er holte die moderne Kunst in die Stadt, Klinger, Monet, Renoir, Cézanne, Rodin, und musste nach lautstarkem, giftigem Protest seinen Posten als Direktor des Großherzoglichen Museums räumen.

Später, 1913, gründete er, ein besessener Buchliebhaber, die Cranach-Presse und steckte Kraft, Fantasie und Geld, mit dem bald die Schwester aushelfen musste, in sensationelle, kostbare Luxusdrucke, wie es sie seitdem nicht mehr gegeben hat. Wenn er in Weimar war, stand er, über Setzkästen und Papiere gebeugt, am liebsten in der Werkstatt, gefesselt von den Experimenten seines englischen Druckers und dem Zusammenspiel von Buchstabe, Wort, Zeile, Seite, Einband. Aus dem Hobby war eine Leidenschaft geworden, die keinen Aufwand scheute und auch keine Steigerungsmöglichkeiten mehr kannte. Immer wieder heißt es im Tagebuch: »Auf der Presse gearbeitet.«

Ende Oktober 1931 musste Kessler, tief verschuldet, die Cranach-Presse offiziell schließen. Seit dem 8. März 1933 lebte er im Exil, meist in Frankreich, zwischendurch wegen seiner gefährdeten Gesundheit auch auf Mallorca. Er war jetzt vollkommen mittellos, ausgeplündert von den Nazis, die Kunstwerke aus seinem Besitz geraubt, verstreut auch die wertvollen Bücher aus seiner Bibliothek. Er starb am 30. November 1937 in Lyon. Von den französischen Künstlern, die er großzügig gefördert hatte, war beim Begräbnis auf dem Père Lachaise keiner zugegen. Auch Maillol fehlte. Er verdanke Kessler, hatte er bekannt, seine zweite Geburt. Inzwischen sympathisierte er mit Franco.

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