Kraftwerk: Antiromantik made in Germany

Deutscher Pop spielte im Ausland keine Rolle – bis vor 50 Jahren Kraftwerks »Autobahn« erschien

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 3 Min.
Kraftwerk-Konzert in Düsseldorf: »Heimatmusik aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet«
Kraftwerk-Konzert in Düsseldorf: »Heimatmusik aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet«

Die deutsche Paradoxie: Weltweit gehören wir zu den technisch führenden Nationen, bauen hochmoderne Autos und Maschinen, melden jedes Jahr zahllose Patente an – und träumen von einer Welt der handgestreichelten Hühner und glücklichen Bioäpfel.

Kraftwerk hatten nie etwas für die Natur übrig. 1970, als andere in die Landkommune zogen und über dem Kartoffelanbau verzweifelten, richteten sie sich in Düsseldorf ihr Kling-Klang-Studio ein und vertieften sich in die damals noch neue Welt der Synthesizer. Dabei waren nicht nur musikalische Fähigkeiten verlangt, sondern vor allem – typisch deutsch – ingenieurstechnische. Die Instrumente, zum Beispiel das elektrische Schlagzeug, mussten teilweise selbst gebastelt werden, weil es sie als Serienprodukte noch nicht gab. Und was verfügbar war, wurde umgehend genutzt: Als eine der ersten Bands überhaupt setzten Kraftwerk einen Vocoder ein.

Das Ergebnis nannten die Gründer und Köpfe von Kraftwerk, Ralf Hütter und Florian Schneider, »Heimatmusik aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet«.

Das Ergebnis nannten die Gründer und Köpfe von Kraftwerk, Ralf Hütter und Florian Schneider, »Heimatmusik aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet«. Und weil es »tief im Westen, wo die Sonne verstaubt« (Herbert Grönemeyer), mehr Straßen als Wälder gibt, besangen sie nicht die Schönheit des Eichenhains, sondern beschrieben eine bundesdeutsche Autobahn: »Die Fahrbahn ist ein graues Band, weiße Streifen, grüner Rand.«

Viel mehr Text gab es auch nicht. In keinem ihrer Lieder. Die Phänomene der modernen Welt – Computerliebe, Radioaktivität, Roboter – bedürfen keiner wortreichen Ausschmückungen. Ein paar kurze prägnante Sätze reichen vollkommen. »Sie stellt sich zur Schau für das Konsumprodukt« – mehr muss man über das kranke Model-Milieu und den Selbstvermarktungs-Kapitalismus nicht sagen. Das ist klarer formuliert als alle weitschweifigen Feuilletonanalysen über Heidi Klums »Ich prostituiere mich, um berühmt zu werden«-Show »GNTM«.

Ja, Kraftwerk waren ihrer Zeit voraus. Selbst heute – 50 Jahre nach ihrem zukunftsweisenden Album »Autobahn« – wirkt ihre Musik noch immer faszinierend futuristisch (nur das knatternde Geräusch eines startenden VW Käfers, mit dem »Autobahn« beginnt, irritiert in Zeiten lautloser E-Autos ein wenig). Tobias Rüther von der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« hat recht, wenn er fragt: »Wie kommt es nur, dass Kraftwerks Musik nicht zu altern scheint? Dass man die Lieder der Gruppe so hört, wie man die Architektur von Bauhaus betrachtet?«

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Die Antwort gaben Kraftwerk selbst. Denn sie machten dort weiter, wo Bauhaus aufgehört hatte: »Die lebendige Kultur Mitteleuropas wurde in den dreißiger Jahren gekappt, und all die Intellektuellen gingen in die USA oder nach Frankreich, oder sie wurden eliminiert. Wir nehmen diese Kultur der dreißiger Jahre an dem Punkt auf, an dem sie verlassen wurde, und dies auf einer spirituellen Ebene«, sagt Ralf Hütter in einem Interview 1976.

Dass aus dieser »spirituellen Ebene« eine eigene Musikrichtung, ja, eine eigene Lebenskultur entstehen würde, konnten Ralf Hütter und Florian Schneider nicht voraussehen. Das Stück »Trans-Europe Express« (1977), das in den schwarzen Clubs Amerikas für Furore sorgte, sollte zur Initialzündung für Techno werden. Spätestens als Afrika Bambaataa und der Produzent Arthur Baker dessen musikalisches Leitmotiv 1982 für »Planet Rock« sampelten (eine Hommage, die sich Kraftwerk mit einem Dollar pro verkaufter Platte honorieren ließen), waren die germanischen Antiromantiker zum Weltkulturerbe geworden. Deutsche Intellektuelle, die die internationale Tanzwelt revolutionierten – auch das ist eine Paradoxie.

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