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Es regnet und dann schneit es wieder

Der Film »Ein Leben« zeigt die Kollision von Wahrheit und gesellschaftlicher Rücksicht

  • Felix Bartels
  • Lesedauer: 5 Min.

»Das Leben«, so lautet der Satz, in dem Stéphane Brizés Verfilmung von Guy de Maupassants großem Roman »Une Vie« schließlich erstarrt, »ist nie so gut oder schlecht, wie man glaubt.« Jeanne, eine junge Adlige, kehrt nach Jahren klösterlicher Erziehung auf den Landsitz ihrer Eltern zurück. Sie heiratet unglücklich; ihr Mann Julien, der sie betrügt, wird vom eifersüchtigen Nachbarn umgebracht. Jeannes Vater stand ihr bloß zaghaft bei, ihr Sohn Paul verlässt sie gen England, wo er eine Prostituierte heiratet und sich in allerlei desaströse Geschäfte involviert. Von einem Leben der Lügen und Zweideutigkeiten gezeichnet, beginnt Jeanne an der Ehrlichkeit seiner Nachrichten zu zweifeln, bis sie einen unumstößlichen Beweis erhält. Es sind nicht die Ereignisse, die einen hieran packen, es ist das Innere der Heldin. Diese Innerlichkeit gibt den Schlüssel, diesen Film zu verstehen - sein Schauspiel, seine Diktion, seine Erzählform, seine bildästhetischen Mittel.

»Ein Leben« scheint zunächst die Geschichte einer unterdrückten Frau. Jeannes Eltern fragen beim Arrangement der Ehe durchaus um ihre Erlaubnis, doch wird ihr eine Erwartung vermittelt. Sie soll nicht unterworfen werden, sondern sich unterwerfen. Julien bleibt ganz äußerlich; er redet kaum, und als er’s dann endlich doch tut, entblättert er sich zum Tyrann. Die erste Nacht ist wenig anderes denn eine Vergewaltigung. Wo Szenen des Friedens sind, kommen sie ohne Worte aus, sobald geredet wird, wird auch verletzt. Obgleich beide im Raum sitzen, spielt Julien Patience und beginnt einen Streit über die Heizkosten. Seine Untreue muss dann gar nicht mehr gezeigt werden. Die Ehe ist hier nur eine weitere Form des Terrors. Jeannes Vater will seine Tochter verteidigen, beugt sich aber dem Einfluss des Priesters, der alles regelt, damit kein Skandal entstehe.

Nächsthin scheint es ums Erwachsenwerden zu gehen. »Was nützt der Weizen, wenn er nicht golden wird?«, heißt es im Prolog. Der Mensch hat zu funktionieren, sonst ist er nichts. Und das legt eine Zündschnur, denn das Funktionieren in einer Welt, die ohne Zweideutigkeiten und Lügen nicht auskommt, bedroht die kindliche Reinheit und damit den Glauben an die Eltern, der Voraussetzung für eben jenes Erwachsenwerden ist. »Jeanne«, äußert der Regisseur, »tritt in die sogenannte Welt der Erwachsenen ein, ohne sich aus dem Paradies der Kindheit verabschiedet zu haben, jenem Lebensabschnitt, in dem alles vollkommen erscheint, in dem die Erwachsenen die Wissenden sind, jene, die sagen, dass man nicht lügen darf, und die deshalb, so denkt man, auch nicht lügen.«

Das eigentliche Thema des Films ist diese Kollision der Wahrheit mit der gesellschaftlichen Rücksicht. Sie wird nicht zuletzt verkörpert durch zwei sehr gegensätzlich handelnde Priester, die beide auf ihre Weise das Leid bloß mehren. Nach dem ersten Betrug wird Jeanne mehr oder weniger genötigt, Julien zu vergeben, der sich unterwürfig zeigen muss, aber diese Unterwerfung bedingt bereits seinen kommenden Sieg. Die Vergebung öffnete ihm eine Tür, er erneuert sein untreues Verhalten, und Jeanne, die das ein zweites Mal nicht alles durchmachen will, richtet sich nunmehr darauf, dass der Betrug nicht bekannt werde. So wird sie aus Scham zum Handlanger der Tat. Das Muster, dem sie erst noch zum Opfer fiel, ist verinnerlicht, und sie wendet es selbst an. Als sie nach dem Tod ihrer Mutter von deren zurückliegender Untreue erfährt, vernichtet sie die Beweisstücke. Die Rücksicht gegen den Vater ist ihr wichtiger als die Wahrheit. So schafft sie, die Ehe ihrer Eltern post mortem zu retten, was ihr bei der eigenen nicht mehr gelingen wird. Juliens Tod ist nur scheinbar eine Erlösung. Jeanne klammert sich im folgenden Jahrzehnt an ihren Sohn Paul, doch als der nach England aufbricht, sieht sie in seiner Geliebten bloß eine weitere Frau, die ihr einen geliebten Mann hinwegverführt. Als oft Betrogene fällt ihr zunehmend schwer, seinen Berichten zu glauben, und sie nimmt die Bitten um finanzielle Unterstützung mit wachsendem Unwillen an. Alles läuft auf einen letzten großen Beweis der Wahrheit hinzu - der Wahrheit, die nicht bloß freimachen, sondern, wie Jeanne erfahren hat, auch töten kann -, die Frage, ob das Enkelkind, von dem Paul berichtet, tatsächlich existiert oder ein erfundener Herzöffner ist. Dieser Moment der Wahrheit, weit gegen Ende des Films, scheint der erste, in dem die Spannung sich etwas löst.

»Ein Leben« funktioniert mehr als Inszenierung denn als Erzählung. Die Innerlichkeit, um die hier alles sich dreht, die ausgeprägte Charakterdramaturgie, wird insonders formal bewältigt, nicht bloß durch das Schauspiel und die gesprochenen Worte. Die Erzwählweise ist streng personal; in praktisch jeder Szene ist Jeanne anwesend. Das Wetter, der Rhythmus der Jahreszeiten, begleitet den Gemütszustand oder den Charakter der gesellschaftlichen Situation. Szenen des Kennenlernens, Aufwinds, der Hoffnung sehen wir bei Sommer, Licht oder Wärme, Szenen der Einsamkeit, Gefahr, des Betrugs sind bei Regen, Winter oder Sturm. Die durchweg bemühte Handkamera - abgegriffenes Mittel filmischer Wichtigtuerei - erfüllt hier tatsächlich einen ernsthaften Zweck. Jeannes Gemüt, das ständig schwankende zwischen Wunsch nach Harmonie und trotziger Behauptung derselben gegen Störungen von außen, die dann umschlägt in Skepsis und Kampf, zeigt sich am unruhigen Bild. Flankiert wird das von der Entscheidung, ein fast quadratisches Bildformat (1,33:1) zu nutzen. Die Perspektive bleibt damit auch für den Zuschauer stets limitiert, subjektiv, innerlich.

Naturgemäß muss der Film seine literarische Vorlage filetieren. Es spricht für ihn, dass er den Kampf gar nicht erst aufnimmt. Wenig Worte, viel Bild, viel Zeigen - die Herausforderung, auf sprachliche Weise mit der poetischen Vorlage mitzuhalten, wird regelrecht ausgeschlagen. Eine narrative Kontinuität entsteht kaum. Brizés benutzt vielmehr eine Technik, die wir bereits aus seinem Film »Der Wert des Menschen« (2015) kennen: Er springt von Ereignis zu Ereignis, und der Zuschauer muss den Hingang von jenem zu diesem selbst herstellen. Die Handlung ist da, wird aber nicht als Bewegung gezeigt; die Sprünge im Takt der Jahreszeiten lassen keine Einheit aufkommen. Lüge zerlegt das Leben.

»Ein Leben«, Frankreich/Belgien 2016. Regie: Stéphane Brizé. Darsteller: Judith Chemla, Yolande Moreau, Jean-Pierre Darroussin. 119 Min.

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