• Politik
  • 25 Jahre Brandanschlag in Solingen

Die Leiden der Familie Genç

In Düsseldorf und Solingen erinnerten Politiker und Angehörige an den rechten Anschlag vor 25 Jahren

  • Aert van Riel und Sebastian Weiermann
  • Lesedauer: 5 Min.

Es sind nur wenige Treppenstufen zum Podium im Landeshaus Düsseldorf. Für Mevlüde Genç sind sie aber ein großes Hindernis. An ihrer Seite steht helfend der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet, der hier seinen Amtssitz hat. Der CDU-Politiker greift der Frau, die ein Kopftuch trägt, unter den Arm und geleitet sie zum Mikrofon. Mevlüde Genç hat in ihrem Leben viel durchgemacht. Beim Brand ihres Wohnhauses in Solingen starben zwei ihrer Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte von ihr. 17 Menschen erlitten zum Teil bleibende Verletzungen. Der Anschlag wurde vor genau 25 Jahren von Neonazis begangen. Deswegen finden an diesem Dienstag mehrere Gedenkveranstaltungen statt.

Mevlüde Genç erhebt die Stimme. Auf Türkisch berichtet sie, zum Zeitpunkt des Anschlags 49 Jahre alt gewesen zu sein. Zeit heilt keine Wunden. »Je älter man wird, desto größer werden die Schmerzen«, erklärt sie. Ihren überlebenden Kindern habe sie vermittelt, dass »der Hass nicht Eingang in ihre Herzen finden darf«. Trotz des Anschlags bezeichnet Mevlüde Genç neben der Türkei, wo sie aufgewachsen ist, auch Deutschland als ihre Heimat. Sie wünsche sich nur, dass man hier friedlich wie Geschwister zusammenleben könne.

Alle weiteren Redner sprechen Mevlüde Genç, die wieder in der ersten Reihe im Publikum Platz genommen hat, direkt an. Laschet sagt, dass sie vielen Deutschen einiges voraus habe. Denn Mevlüde Genç habe nicht pauschal alle Deutschen wegen des Anschlags verurteilt, sondern nur die vier Täter. Dagegen würde hierzulande schnell generalisiert, wenn ein Zuwanderer eine Straftat in der U-Bahn begehe, betont Laschet. Dann heiße es schnell: »Die Muslime oder die Flüchtlinge sind schuld.« Zu Ehren von Mevlüde Genç will das Land Nordrhein-Westfalen eine Medaille stiften, die ihren Namen trägt. Sie soll an diejenigen verliehen werden, die sich für Verständigung zwischen den Kulturen einsetzen. Die Auszeichnung ist mit 10 000 Euro dotiert.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel findet lobende Worte für Mevlüde Genç. Sie habe auf eine unmenschliche Tat mit menschlicher Größe reagiert, sagt Merkel. Die CDU-Politikerin erinnert daran, dass auch heute mit Tabubrüchen verbal Gewalt gesät werde. Es ist nicht schwer zu erraten, dass ihre Worte an die AfD adressiert sind. Kein Wort verliert Merkel allerdings darüber, dass ihre Partei vor dem rechten Mob eingeknickt ist und auf brennende Unterkünfte von Migranten sowohl 1993 als auch vor wenigen Jahren mit Verschärfungen des Asylrechts reagiert hat.

Auf Wunsch der Familie Genç darf auch der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu sprechen. Sein geplanter Auftritt hatte schon vor einigen Wochen für Diskussionen gesorgt. Denn am 24. Juni sollen in der Türkei Parlamentswahlen stattfinden und die Bundesregierung hatte hierzulande Wahlkampfauftritte untersagt. Grüne und SPD wehrten sich wegen der Aggression der Türkei in Syrien und wegen der autokratischen Politik von Çavuşoğlus Partei AKP erfolgreich gegen einen Auftritt im nordrhein-westfälischen Landtag. Deswegen muss Çavuşoğlu im Landeshaus sprechen.

Der Außenminister gibt sich diplomatisch. Mit ruhiger Stimme bietet er Deutschland »Unterstützung der Türkei« an, um gegen Rassismus vorzugehen, aber auch um bei der Integration der Migranten zu helfen. »Wir müssen eine Lösung finden, damit die vielen verschiedenen Menschen zusammenleben können«, sagt Çavuşoğlu. »Unser Ideal ist es, dass wir alle in Frieden zusammenleben.« Dafür seien die Migranten gefordert, aber auch die deutschen Medien hätten eine »große Verantwortung«.

Politiker und Angehörige reisen dann zu Veranstaltungen in Solingen weiter. Dort stehen am Mittag die Übertragungswagen bereit. Die Bereitschaftspolizei patrouilliert. Ein Kiosk in der Nähe hat eine deutsche und eine türkische Flagge aufgehängt. Fotografen und Kamerateams scharen sich um das Mahnmal, an dem Mevlüt Çavuşoğlu, der deutsche Außenminister Heiko Maas, Solingens Oberbürgermeister Tim Kurzbach (beide SPD) und der stellvertretende NRW-Ministerpräsident Joachim Stamp (FDP) gemeinsam der Opfer gedenken wollen.

Ansonsten ist es in der Stadt weitgehend ruhig. Zwei Demonstrationszüge von Schülern erhalten kaum Resonanz. Etwa 300 junge Solinger sind gekommen. Vor fünf Jahren waren es mehr als 1000, erzählt Nico Bischoff, der einen der Demonstrationszüge angemeldet hat. Damals war er selbst in der Bezirksschülervertretung. Heute ist er im Bündnis »bunt statt braun« aktiv. Er berichtet, dass es in Solingen durchaus Tendenzen gäbe, »einen Schlussstrich ziehen« zu wollen. Dem müsse man sich entgegenstellen, sagt Bischoff. »Denn wir erleben einen gesellschaftlichen Rechtsruck.« Dass nur vergleichsweise wenig Schüler an den Demonstrationen teilgenommen haben, hat laut Bischoff viel damit zu tun, dass sich »viele Schulen quer gestellt« hätten. Den Unterricht etwas früher zu beenden, wäre eine gute Maßnahme gewesen, um »Demokratiebildung erlebbar« zu machen.

Viele Solinger werden durch den Sternmarsch der Schüler offenbar wieder an den Anschlag erinnert. Vor einer Bäckerei am Neumarkt stehen zwei Frauen um die 60. »Schlimm ist das alles gewesen«, sagt eine von beiden. Sie spricht von dem Mord, aber auch von den Ausschreitungen in den Tagen danach. »Mein Mann und ich hatten wirklich Angst, vor die Tür zu gehen«, sagt sie. Die Erinnerung an den Anschlag findet sie aber gut. Es dürfe nicht sein, dass so »schreckliche Sachen« wieder passieren.

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