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Bullerbü ist anderswo
Warum große Städte immer weniger Orte für spielende Kinder sind
Die Kinder spielten auf der Brache hinter dem Haus, wie Kinder nun einmal spielen. Sie sammelten Stöcker, suchten Schnecken, guckten, ob die Kastanien aus dem vorigen Jahr keimen, ob es irgendwo Dinosaurier-Eier gibt. Für das Kleinste hatte die Mutter einen Zaun etwas zur Seite gedrückt, damit es hindurchschlüpfen und auch auf das Gelände konnte. Was die Frau nicht wusste: Sie wurde dabei beobachtet. Unvermittelt kam ein Mann auf sie zu und fragte nach ihrem Namen. Er werde sie anzeigen, sagte er, weil sie den Zaun beschädigt habe - was aber totaler Quatsch ist. Der Pfahl steht schon seit Jahren windschief da.
Natürlich gab die Frau ihren Namen nicht Preis. Sie wollte keinen Streit haben, ging dem Mann aus dem Weg. Vielleicht war das ein Fehler. Denn er folgte ihr über den benachbarten Hof mit den Parkplätzen, um den er sich kümmert. Er wurde zu einem Jäger, sie zur Gejagten. Sie lief durch ein Tor, er stieg aufs Fahrrad und folgte ihr schließlich bis zur U-Bahnstation, wo er sein Handy zückte und Fotos von der Mutter mit dem weinenden Kind auf dem Arm machte.
Später rückte tatsächlich die Polizei an. Zwei Uniformierte unterhielten sich mit dem Parkplatzwächter, der seine Arbeit offenbar ernst nimmt. Eigens für die nicht vermieteten Stellplätze ließ er Poller aus Beton gießen. Was für eine Aufregung wegen eines Kindes, das durch einen Zaun geschlüpft war! Das dachten sich offenbar auch die Polizisten. Nachdem sie sich den Tatort besahen, zogen sie wieder ab.
Für 65 Euro monatlich ist ein Stellplatz auf dem unebenen Gelände zwischen zwei Straßenzügen in Prenzlauer Berg zu haben. Angeblich auch längerfristig. Das sagt zumindest eine Mitarbeiterin der Immobilienfirma, die den Platz verwaltet. Doch das Gerücht hält sich hartnäckig, dass auch dort gebaut werden soll. Wie so ziemlich auf jeder freien Fläche in der Berliner Innenstadt. Die Stadt wächst bekanntlich schneller als gedacht. Überall entstehen Wohnungen, auf den Dächern, in den wenigen innerstädtischen Freiflächen, auf Industriebrachen, in den Außenbezirken, im Umland. Weil Bauland knapp ist, sind die Bodenpreise durch die Decke gegangen. In den begehrten Lagen betragen die Steigerungen der vergangenen Jahren teilweise mehr als 1000 Prozent. In Worten: Eintausend! Noch nie war der märkische Sandboden so lukrativ.
Unweigerlich wird auch den vielgerühmten Berliner Hinterhöfen zu Leibe gerückt. Mehr oder weniger liebevoll angelegte Beete, Ligusterbüsche und wilde Brombeerhecken müssen immer häufiger Neubauten weichen. Oft bleibt von den Höfen nicht mehr, als eine dunkle Ecke zwischen Fahrradständer und Müllplatz. Doch gerade für Kinder ist dieser halböffentliche Raum wichtig. Abgeschirmt von dem Trubel vor der Haustür, finden sie dort ihre Ruhe und können sich entfalten. Die Höfe sind überschaubar, die Nachbarn oft bekannt. Im Interesse der Eigentümer sind solche belebten Höfe allerdings nur selten. Sie haben davon höchstens Scherereien, aber nichts, was sich für sie auszahlt. Und darauf kommt es ihnen bekanntlich vor allem an.
Lukrativ ist es wiederum, die Mietshäuser zu privatisieren und Wohnungen einzeln zu verkaufen. Dann wird auch die Rechtsprechung ernst genommen, die nämlich besagt, dass Spielplätze Wohngebieten nicht nur zulässig, sondern ein Gebot sind, »um Kindern gefahrlose Spielmöglichkeiten in zumutbarer Entfernung ihrer Wohnung zu schaffen«, wie es in einem Gerichtsurteil lautet, das gerne als Präzedenzfall zitiert wird. Allzu oft reduzieren sich solche Spielmöglichkeiten in Altbauvierteln allerdings auf Buddelkasten und Wackelpferdchen. Sorgsam mit Gittern abgetrennt von den Nachbarhäusern. Denn einhergehend mit einer Ausweitung der Eigenheime schlägt auch die Zaunkultur seltsame Blüten. Je wertvoller ein Besitz, desto größer ist offenbar das Bedürfnis, diesen einzugrenzen. Auch wenn das keinen Zweck erfüllt, niemanden beschützt, niemanden von etwas abhält. Wenig verwunderlich also, dass bei Kindern solche parzellierten Spielplätze so attraktiv sind wie ein Sonntagnachmittag mit den Großtanten am Kaffeetisch.
Nun mag es ja durchaus Familien geben, die von der Immobilienentwicklung nutznießen und aufgestiegen sind - die jetzt mit dem Fahrstuhl in ihre großzügig geschnittene Dachgeschosswohnung fahren. Doch viele eben auch nicht, selbst wenn sie zur Mittelschicht gehören, jene Klientel, die vor einigen Jahren in Prenzlauer Berg noch als Bionade-Bourgoisie verspottet wurde, weil sie der bürgerlichen Kleinfamilie einen legeren Anstrich verlieh. Auch dieses Milieu muss sich einschränken und zusammenrücken, Familien leben etwa zu viert in drei Räumen, oder zu dritt in zwei. Die hohen Mieten schrecken auch sie vor einem Umzug in größere Wohnungen ab.
Auf der großen Berliner Mietwucherdemo im April, an der mehr als 20 000 Menschen teilnahmen, hielt ein Kind, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, ein Plakat hoch. Es forderte darauf genügend Platz für seine Kuscheltiere. Kann sein, dass es nicht aus Prenzlauer Berg kam. Aber die Geschichten ähneln sich, die gibt es auch in Charlottenburg und Treptow, in Leipzig und Dresden.
Die Frage bleibt, wo die Kinder spielen können, wenn die Wohnungen zu klein sind und sie nicht mehr einfach so in den Hof gehen können. Angebote lassen sich an den Laternen und Spielplatzeingängen einholen. Dort kleben Anzeigen, die zum kreativen Kindertanz einladen oder zum Musikunterricht. Beliebt sind bei Eltern auch Kindercafés mit Sandkasten oder Bällebad. Geburtstagspartys mutieren zu Events - gefeiert in Tommys Tobewelt oder in der Legoland Discovery World. Das passt in die Zeit: Wenn halböffentliche Räume knapp werden, nutzen kommerzielle Anbieter das Vakuum und decken den Bedarf ab - für Familien, die es sich leisten können, versteht sich.
Aber auch die öffentlichen Plätze erhalten in wachsenden Städten eine größere Bedeutung. Sobald die Sonne herauskommt, sind die Spielplätze belebt. Fällt die 20 Grad-Celsius-Marke, wird es richtig voll. Die Szenen auf dem Spielplatz in Prenzlauer Berg gleichen einem Freibad im Hochsommer, wo auf der Liegewiese kaum mehr ein Platz für ein Handtuch frei ist. Auf dem Arnimplatz werden entlang des großen Sandkastens die Stellplätze für Kinderwägen knapp. An der Schaukel bilden sich Schlangen - nach Gustav kommt Charlotte, danach Emily und dann Norina. Das ist nicht zwangsläufig ein Drama, aber gewöhnungsbedürftig und auf Dauer verdammt anstrengend - für Eltern wie für Kinder.
Werden die Kinder älter, beginnen sie flügge zu werden und erkunden das Gelände auf eigene Faust. Auf dem Arnimplatz laufen die Wege auf ein Rondell zu, in dessen Mitte eine Rabatte steht. Die Goldruten haben dort längst die Oberhand gewonnen. Natürlich streifen die Kinder darin herum, klettern in die große Buchsbaumkugel, die mittlerweile ziemlich zerfleddert aussieht. Barock ist daran gar nichts mehr, sie ist ein Kletterbaum mit Ausguck für Piraten geworden - was nicht alle erfreut.
Ein Mann, vielleicht Mitte 50, sitzt oft auf einer Bank am Rondell. Er trägt meistens Shirts von »Black Sabbath« und hat eigentlich immer ein Bier in der Hand. Wie eine Vogelscheuche wankte er über den gepflasterten Platz, als er die Kinder im Baum sah. Er schimpfte nicht, nein, er drohte furchteinflößend. Ihm ging es ums Prinzip, um die Ordnung und nicht um die Liebe zum Buchsbaum oder zur Natur.
Sicher wird er durchdrehen, sollte er einmal mitkriegen, dass Kinder, wenn sie müssen, einfach neben die Wege pinkeln. Je jünger, desto ungenierter.
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