Moralische Empörung ist noch keine linke Politik

Andreas Nölke vermisst in der migrationspolitischen Debatte der LINKEN den Versuch, über spezifische Forderungen und deren Durchsetzbarkeit nachzudenken

  • Andreas Nölke
  • Lesedauer: 7 Min.

Vor ein paar Wochen hat eine Reihe von Repräsentanten der Linkspartei ein vielbeachtetes »Thesenpapier zu einer human und sozial regulierenden linken Einwanderungspolitik« veröffentlicht. Das Papier soll dazu beitragen, die Polarisierung zwischen unterschiedlichen Lagern der Linkspartei – grob vereinfacht: Kipping versus Wagenknecht – zu überwinden. Das zentrale Streitthema der Einwanderung wird hier anhand von recht nuancierten politischen Forderungen zu verschiedenen Politikfeldern (beispielsweise Asylrecht, Arbeitsmigration und Auswirkungen auf Ziel- sowie Herkunftsländer) konkretisiert, als Grundlage für eine konstruktivere Diskussion.

Das Ansinnen ist wohl gründlich misslungen. Die Aufnahme des Papiers in der Partei ist denkbar negativ. Eine kritisch-konstruktive Beschäftigung mit einzelnen Forderungen findet nicht statt, der Diskurs wird verweigert. Stattdessen regnet es pauschale Abqualifizierungen. So nennt Mario Neumann in der »taz« eine Abkehr von offenen Grenzen »einer linken Partei unwürdig«, zumal es ihr nur um die »Gewährleistung der Ordnung« gehe. Ceren Türkmen und Bernd Kasparek stellen in einem Beitrag für die DISPUT-Seite der LINKEN fest, dass »die Rede von der Regulierung eine Feindin der Demokratie ist«. Ulla Jelpke und andere bezeichnen Passagen des Papiers als »schlicht reaktionär«, zumal es »der populistischen Sicherheitspropaganda einer konservativen Regierung gedankenlos folge«. Und Caren Lay wirft in der »Jungle World« dem Thesenpapier vor, »Ressentiments gegen Migrantinnen und Migranten zu bedienen«.

Migrationspolitik kein Sachthema

Wie kommt es zu dieser radikalen, reflexhaften und geradezu hochemotionalen Ablehnung? Migrationspolitik ist offensichtlich in großen Teilen der Linkspartei kein Thema für die Beschäftigung mit Sachthemen. Hier geht es eher um grundlegende moralische Fragen, bei denen gegenüber Andersdenkenden kein Pardon gegeben werden kann. Bei Moralfragen steht Gut gegen Böse, zumindest wenn sie so wohltuend einfach formuliert werden wie in diesen Reaktionen. Gerade wenn man über längere Zeit wenig politischen Einfluss ausgeübt hat, ist die Fokussierung auf Rechthaberei verständlicherweise wohl verführerisch. Darum ist es für viele Linke hier wichtiger, vor den hohen eigenen Maßstäben zu bestehen, anstatt über spezifische Forderungen und deren Durchsetzbarkeit nachzudenken. Andere dulden keinerlei Abweichung von der sozialistischen Idee des Internationalismus sowie den Lehren von Marx und Lenin, so Fabian Georgi.

Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Haltung einer politischen Partei gut steht. In der demokratischen Politik geht es um die Werbung von Mehrheiten für die eigene Position. Für linke Parteien steht dabei die Verbesserung der sozialen Lage der weniger Privilegierten im Vordergrund. Gegenüber diesen Maßstäben stößt der moralische oder theoretische Rigorismus auf deutliche Grenzen. Sein Duktus zielt nicht auf die Überzeugung von Andersdenkenden, sondern auf die Betonung der normativen Überlegenheit der eigenen Position. Es geht ihm – zumindest in der linken Migrationspolitik – auch nicht um die Diskussion der sozialen Auswirkungen konkreter politischer Maßnahmen, sondern immer um das welthistorisch Große und Ganze.

Linkspartei verharrt im Zehnprozentturm

Fragen der politischen Ethik können von großer Faszination sein. Man denke etwa an die Diskussion von »Gesinnungsethik« und »Verantwortungsethik« in der Friedensbewegung der Achtziger Jahre. Diese Nuancierung lassen die zitierten Reaktionen allerdings bisher vermissen. Zudem hat die aktuelle Diskussion in der Linkspartei politisch eine wahrlich tragische Dimension. Eigentlich müsste die Partei in den Umfragen zurzeit steil aufsteigen. Die Sozialdemokratie ist in einer historisch schwachen Lage. Große Teile der Arbeiterschaft sind so unzufrieden mit ihren Perspektiven, dass sie sogar die AfD wählen, obwohl sie sich über die wirtschaftspolitisch rechte Ausrichtung dieser Partei keine Illusionen machen. Trotzdem verharrt die Linkspartei in ihrem Zehnprozentturm.

Wenn wir nach den Gründen für die geringe Popularität der Linkspartei in den weniger privilegierten sozialen Gruppen – dem natürlichen Reservoir linker Parteien – fragen, steht deren migrationspolitische Positionierung klar im Vordergrund. Viele Arbeiter, prekäre Dienstleister und Angehörige der unteren Mittelschicht – auch solche mit einem eigenen Migrationshintergrund – stehen einer stark anwachsenden Einwanderung sehr skeptisch gegenüber. Bei allen Sympathien für die sozialpolitischen Forderungen der LINKEN führt deren Haltung in Einwanderungsfragen für viele dieser Menschen zur Unwählbarkeit.

Perspektiven für Linke insgesamt schwinden

Manche in der LINKEN trösten sich damit, dass die rigorose Haltung zumindest bei der akademisierten Jugend gut ankommt, vor allem in den großen Städten. Allerdings teilt sie sich diese Wählergruppe mit SPD und Grünen. Da gleichzeitig viele Arbeiter AfD wählen oder sich enthalten, schwinden die Perspektiven für die Linke insgesamt, wie jüngst der Absturz von einer Mehrheit auf etwa 40 Prozent der Bundestagsmandate illustriert hat.

Eine etwas realistischere Positionierung in Einwanderungsfragen – wie sie etwa von Jeremy Corbyn, Jean-Luc Mélenchon oder Bernie Sanders vertreten wird – könnte es der Linkspartei ermöglichen, sich zur Hoffnungsträgerin der progressiven Politik in Deutschland aufzuschwingen. Sie könnte – mit etwas Glück bei den Wahlen – linke Mehrheiten ermöglichen und konkrete Schritte für die Verbesserung der sozialen Lage durchsetzen. Eine Partei, die lieber moralische oder theoretische Grundsatzpositionen hochhält, kann hier hingegen keinen Beitrag leisten, da sie ja nie die Gelegenheit bekommt, politisch mitzugestalten.

Nun werden viele der Kritiker des Thesenpapiers mit Luther sagen: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders.« Opportunistisch, gar populistisch Positionen zu übernehmen, nur um damit Mehrheiten bilden und auf Sicht soziale Verbesserungen durchsetzen zu können, sei abzulehnen, weil man sich moralisch nicht diskreditieren dürfe. Nun ja. Prinzipientreue kann man Menschen hoch anrechnen. Für Parteien ist das allerdings weniger sinnvoll, ihr Geschäft ist die Mobilisierung demokratischer Mehrheiten.

Kosmopolitismus gegen Kommunitarismus

Andere werden sagen, dass eine restriktivere Einwanderungspolitik keine linke Position sei. Aber auch das scheint ein Missverständnis zu sein. Zunächst verkennt diese Haltung, dass in dieser Diskussion nicht »links« gegen »rechts« steht, sondern kosmopolitische gegen kommunitaristische Positionen. die Kontroverse überlagert derzeit die klassische Links-Rechts-Polarisierung des Parteienspektrums in Bezug auf Verteilungsfragen. Eine migrationsskeptische Position wird vor allem deswegen in Deutschland als »rechts« eingeordnet, weil sie bisher nur von wirtschafts- und sozialpolitisch rechten Parteien getragen wird, von AfD und CSU.

Zudem übersieht die »offene Grenzen«-Haltung, dass sie eher eine liberale Positionierung ist. Es geht ihr im Kern um die Maximierung von individuellen Freiheitsrechten, nicht um die Abschätzung der sozialen Folgen konkreter politischer Maßnahmen. Wenn sie Letzteres in Betracht ziehen würde, würde sie feststellen, dass eine stark steigende Einwanderung vor allem auf Kosten der am wenigsten privilegierten Bevölkerungsgruppen geht, während die deutschen Mittel- und Oberschichten von den billigen Arbeitskräften eher profitieren. Sie würde dann auch thematisieren, dass viele soziale Errungenschaften historisch durch die Verknappung des Arbeitsangebots durchgesetzt wurden, nicht durch dessen Erweiterung.

Die Sorgen vieler Linker, mit einer Regulierung von Migration das Geschäft chauvinistischer oder gar rassistischer Parteien zu betreiben, sind verständlich und legitim. Aber sie sollten vielleicht darüber nachdenken, ob es nicht doch einen fundamentalen Unterschied gibt zwischen der nüchternen Feststellung, dass Migration mitunter problematische soziale Folgen hat und daher der Regulation bedarf einerseits und der Hetze gegen Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion oder ihrem ethnischen Hintergrund andererseits.

Natürlich ist es eine positive Utopie, dass die Menschen irgendwann in einer Welt ohne Grenzen leben. Man sollte aber auch nicht verkennen, dass es hier um eine sehr langfristige Perspektive geht. Und die Realisierung dieser Perspektive würde sich noch weiter nach hinten verschieben, wenn die aktuellen Debatten dazu führen, dass große Teile der Arbeiterschaft endgültig in das Lager rechtspopulistischer Parteien getrieben werden.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft, insbesondere Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie, am Fachbereich Sozialwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt (Main). Im Februar erschien sein Buch »Linkspopulär. Vorwärts handeln, statt rückwärts denken« (Westend Verlag. 240 S., brosch., 18 €).

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