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Kernbrennstoff made in Niedersachsen
Neuer Protesttag gegen Atomkraftwerk und Brennelementefabrik in Lingen
Samstagmittag am Bahnhof Lingen: Heidi Kuhnert steigt auf einen kleinen Hügel, erklärt den Umstehenden den weiteren Ablauf. Mit dem Bus werde man gleich zum Kernkraftwerk Emsland am Rande der Stadt fahren. Nach der Demonstration solle man diejenigen in den frühen Bus lassen, die mit dem Zug wegfahren müssten. Das sind die meisten Teilnehmer. Sie kommen aus dem Münsterland, aus Bremen, Hamburg und natürlich aus dem Wendland. Die meisten kennen sich. Im Bus wird über vergangene Demonstrationen und geplante Aktionen gesprochen. Aus der 50.000-Einwohner-Stadt im westlichen Niedersachsen selbst kommen nur wenige, um gegen das Kernkraftwerk zu demonstrieren.
Heidi Kuhnert erzählt im Gespräch, dass sie vor 13 Jahren der Liebe wegen nach Lingen gezogen sei. Damals habe sie nicht gewusst, »in was für eine Atomregion« sie gezogen sei. In der Öffentlichkeit sei das Thema kaum präsent. Sieben Jahre ist es her, dass sie im Radio von einer Blockade der Brennelementefabrik gehört hat. Dort ist sie hingefahren, habe sich mit Menschen unterhalten und festgestellt, dass die meisten Demonstranten von außerhalb kommen. Daran hat sich nichts geändert: »In Lingen sind wir derzeit zu viert«, berichtet sie.
In der Stadt stößt das Engagement der Atomkraftgegner auf Unverständnis bis Ablehnung. Viele Menschen sind laut Kuhnert einfach nicht informiert, andere auf Grund ihrer Abhängigkeit von den Firmen nicht zur Diskussion bereit. »Wenn die halbe Familie bei RWE arbeitet, ist man nicht gegen das Kernkraftwerk.«
Dabei gibt es gute Gründe, den Atomstandort Lingen kritisch zu sehen. Das Kernkraftwerk das fast auf den Tag genau vor 30 Jahren in Betrieb ging, wird 2022 abgeschaltet. Kleinere Störfälle häufen sich nach Angaben von Aktivisten. »In das Kraftwerk wird kein Geld mehr gesteckt, weil es bald abgeschaltet wird«, kritisiert ein Redner von einer Anti-Atom-Initiative aus Münster.
Wichtiger als das Kraftwerk ist den Demonstranten allerdings die Brennelementefabrik, die wenige hundert Meter entfernt im Wald liegt. Hier stellt die Firma Framatome Brennelemente für Kraftwerke in ganz Europa her. Die belgischen Pannenreaktoren Tihange und Doel, der französische Altreaktor Fessenheim und der finnische Neubau Olkiluoto werden aus Lingen mit frischem Kernbrennstoff beliefert. Die Fabrik, das wird auf der Demonstration immer wieder erwähnt, ist eine zentrale Drehscheibe der europäischen Atomindustrie. Ohne Lingen würde vieles nicht funktionieren.
Dass sehen auch viele Demonstranten so, die aus den Niederlanden gekommen sind. Mitglieder der Sozialistischen Partei sind mit Bussen angereist. Jan Schaake, Aktivist einer Friedensinitiative aus Enschede, berichtet, dass das Atomkraftwerk Emsland im Nachbarland durchaus ein Thema sei. An Menschen in der Grenzregion seien schon Jodtabletten verteilt worden - als Vorbereitung auf einen Störfall. Für die Menschen im Emsland gibt es kein Jod. Im Gegenteil, eine Anfrage der Grünen im niedersächsischen Landtag machte vor einigen Monaten deutlich, dass die Notfallpläne für einen Atomunfall in der Region veraltet sind. Nach dem Unglück in Fukushima hatte die Strahlenschutzkommission ihre Empfehlungen etwa für Evakuierungszonen aktualisiert. Mit der Umsetzung lässt man sich in Niedersachsen Zeit. 2020 sollen die neuen Katastrophenpläne fertig sein.
Ein weiterer Grund dafür, dass am Samstag 500 Menschen gegen den Atomstandort Lingen auf die Straße gingen. Trotz Desinteresse in Lingen wächst die Bewegung: Als man 2016 mit regelmäßigen Aktionen gegen AKW und Brennelementefabrik begann, waren es nur 120 Menschen, die auf die Straße gingen.
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