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Die Tyrannei des Nationalen
Thorsten Mense graut sich vor dem Fahnenmeer, das während der Fußballweltmeisterschaft das Land überziehen wird
Es ist wieder soweit. Schon seit Wochen kündigen Bierdosen in Nationalfarben und Deutschlandfahnen in der Ramschecke großer Supermärkte die Tyrannei des Nationalen an. Eigentlich sollte man denken, dass jeden vernünftigen Menschen angesichts der bierbeseelten und Testosteron beladenen Masse, die nun wieder auf den Straßen und in den Kneipen ihre nationale Vergemeinschaftung lautstark zur Schau stellen muss, das Grauen überkommt. Stattdessen aber wird mit dem Fahnenmeer die Debatte wieder aufkommen, dass Patriotismus und Nationalismus doch zwei grundverschiedene Dinge seien. »Patriotismus ist Liebe zu den Seinen, Nationalismus ist Hass auf die anderen«, so einer der viel zitierten Kalendersprüche, die alle zwei Jahre mit Schwarz-Rot-Geil einhergehen. Aber ist nicht weitläufig bekannt, wie nahe Liebe und Hass beieinander liegen?
Der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer, ein Kenner »Deutscher Zustände«, wie die alljährlich vom ihm herausgegebene Studie zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit heißt, hat das Gerede vom weltoffenen, friedlichen Patriotismus bereits im WM-Jahr 2006 als »gefährlichen Unsinn« bezeichnet - und konnte diese Aussage wissenschaftlich belegen. Nicht Zustimmung zu demokratischen Werten, sondern nationalistische Einstellungen haben nach dem Ausbruch des Partypatriotismus einen Zuwachs verzeichnet. Der neue »Mut zu Deutschland«, der sich symbolisch im »Sommermärchen« äußerte, war zugleich die politische Parole, mit der die AfD elf Jahre später in den Bundestag einzog. Die Wiedergutwerdung der Deutschen im Sommer 2006 hat den Boden bereitet, auf dem sich der völkische Nationalismus in Form von Pegida und AfD überhaupt erst so massiv ausbreiten konnte. Auch wenn die Zusammensetzung der deutschen Nationalmannschaft weitaus mehr der postmigrantischen gesellschaftlichen Realität entspricht als das von ihnen vertretene Bild der deutschen Nation.
Das Problem liegt aber nicht darin, dass auch RassistInnen und Neonazis gerne die deutsche Fahne schwenken. Und natürlich gibt es Unterschiede zwischen Pegida und der Feierei auf den Fanmeilen. Aber in beiden Fällen vollzieht sich die nationale Vergemeinschaftung in Form einer konkreten Erfahrung, das Individuum geht in der Masse auf - und in ihr unter. Für einen kurzen Moment darf man sich im patriotischen Rausch als »global player« fühlen; die Identifikation mit Nation und Nationalmannschaft, was hier nicht voneinander zu trennen ist, kompensiert die Ohnmacht und fehlende Selbstbestimmung, die den Alltag bestimmt. Der Wunsch nach Integration in vermeintlich naturgegebene Solidargemeinschaften wie Heimat, Volk und Nation ist die Antwort auf die soziale Desintegration und den steigenden Konkurrenzdruck. Dies ist aber keineswegs ein »Rausch ohne Kater«, wie uns die »Bild« glauben machen will. Denn der nationale Taumel konditioniert die Menschen, er bereitet sie auf die nächste Verschärfung des Asylrechts ebenso wie auf die kommende Steuererhöhung vor. Dass sie hiervon unterschiedlich betroffen sind, zeigt, dass die nationale Einheit eine falsche ist. Aber wenn »aus 80 Millionen ein Team wird« (Bitburger-Werbung zur EM 2012), wird die Erkenntnis des Zwangszusammenhangs vom Fahnenmeer hinweggespült.
Nationale Identität ist nichts Positives. Sie lebt davon, ständig bedroht zu sein. Und Patriotismus kann nie nur inklusiv sein, dann würde er sein kollektives Subjekt, die Nation, verlieren, das sich erst durch die Bestimmung des Anderen, Nicht-Zugehörigen konstituiert. Nationales Bewusstsein, ob als Nationalismus, Patriotismus oder Heimatliebe, bedeutet nicht, dass sich alle »zusammengehörig fühlen«, wie es Heimatminister Horst Seehofer (CSU) formulierte, sondern dass es Gruppen gibt, die in Konkurrenz zueinander stehen. Die nationale Weltordnung spiegelt sich hier auf dem Fußballrasen: Deutschland wird eben nicht nur am Hindukusch, sondern auch auf dem Spielfeld verteidigt.
Mit Fußball hat all das, was wir in den kommenden Wochen ertragen müssen, nur am Rande zu tun, wie die jüngste »Bild«-Sonderausgabe zeigt, die sich aus Anlass der WM mit Heimat und Vaterlandsliebe beschäftigt. Wer das nicht sehen will, ist entweder blind für gesellschaftliche Zusammenhänge oder möchte sich das heimelige Nationalgefühl nicht verderben lassen. Meist geht beides Hand in Hand.
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