Befristung als Lebensform
Ein großer Teil des wissenschaftlichen Nachwuchses arbeitet in Deutschland in prekären Verhältnissen
Vor kurzem traf ich nach einigen Jahren meine Schulfreundin Sarah* wieder. An einem leicht schwülen Sommerabend unterhielten wir uns in einer Kneipe in Berlin-Neukölln angeregt darüber, wie sich in den letzten Jahre unser Leben verändert hat. Sarah liebte schon immer das Theater. Wenn sie früher von Stücken sprach, die sie berührten, sprach aus ihr eine Leidenschaft und ansteckende Faszination, die ihre Zuhörer elektrisierte. Bevor wir den Kontakt verloren, erfuhr ich noch, dass sie sich zum Studium der Theaterwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität in Nürnberg einschrieb.
Heute arbeitet sie dort am Institut für Theaterwissenschaft. Aber als sie mir davon erzählte, leuchteten ihre Augen nicht mehr. Ihre Faszination hat sie eigentlich nicht verloren. Doch mit jedem Wort über ihre Erfahrungen wurde deutlich, dass ihre theoretischen und praktischen Ambitionen in den letzten Jahren immer mehr im Getriebe des wissenschaftlichen Normalbetriebs versiegten. Sarah hatte innerhalb der letzten vier Jahre, an ein und derselben Hochschule, zehn Arbeitsverträge. Allein beim Institut für Theaterwissenschaft waren es sechs Verträge und drei Lehraufträge. In der Regel hat sie zwei Jobs gleichzeitig an der Uni. Am Ende des Monats hat sie 600 Euro, und auch in Nürnberg sind die Mieten hoch. Sie fühle sich, sagte sie, seit Monaten einfach nur müde.
Studieren - das ist nicht nur Wissenserwerb, Vorbereitung auf den Beruf, ein neuer Lebensabschnitt. Es ist auch ein großer Crashtest, denn alles muss neu sortiert werden. Wie finden Studierende eine bezahlbare Wohnung? Wer finanziert ihre Ausbildung? Wie machen ihnen Stress und Leistungsdruck zu schaffen? Was bedeutet es, zu studieren und gleichzeitig ein Kind großzuziehen? Wie geht es dem universitären Prekariat, das einen erheblichen Teil der Hochschulausbildung trägt? Wie sind die Jobaussichten nach dem Abschluss? Diesen und anderen Fragen gehen wir in einer nd-Serie nach - jeden Mittwoch.
So wie Sarah geht es an den Hochschulen heute vielen Menschen, die Teil des wissenschaftlichen Mittelbaus und damit Teil des wissenschaftlichen Prekariats sind. Von den Armen des wissenschaftlichen Mittelbaus wird das Wissenschaftssystem getragen. Die dort Beschäftigten übernehmen den größten Teil der Lehre. Sie prüfen die Studierenden. In der Forschung leisten sie inhaltliche und organisatorische Zuarbeit. Sie publizieren und organisieren Konferenzen und Fachtagungen. Sie sind für Verwaltungsaufgaben bei der Akquise von Drittmitteln zuständig. Vor allem übernehmen sie diese Aufgaben gern, gehen doch die meisten ihrer gefühlten Berufung nach. Doch vergütet wird es ihnen mit Hungerlöhnen und befristeter Beschäftigung.
Laut dem Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs 2017 sind 93 Prozent aller wissenschaftlicher Mitarbeiter unter 45 Jahren an Hochschulen befristet beschäftigt. Sie haben keine Planungssicherheit, nicht für den Karriereweg und damit auch nicht für die Familienplanung, weswegen verhältnismäßig viele von ihnen kinderlos bleiben. Unsicherheit ist für die Hochschulbeschäftigten eine Lebensform, was massive Auswirkungen auf ihr Selbstwertgefühl, ihre Lebensorganisation und auch auf ihre Gesundheit hat.
Die begehrte Festanstellung liegt für alle als Versprechen in der Luft. Vielleicht kommt sie nächstes Jahr, wenn man nur hart genug arbeitet? Wenn man allen zeigt, dass man es wirklich verdient? Doch in der Regel kommt die Festanstellung nicht, sondern nur das Gefühl des eigenen Versagens. Viele unterliegen einem negativen Dauerstress. Sie können schlecht schlafen, erleben Denkblockaden und fühlen sich überfordert. Im Hamsterrad ihrer psychischen Dauerbelastung verschleißen sie ihre körperlichen, geistigen und sozialen Ressourcen.
Das Befristungsunwesen ist nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde politisch organisiert. Im Februar 2016 antwortete die Große Koalition halbherzig auf die Kritik der Beschäftigten mit der Novelle zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Festgelegt wurde, dass die Befristung von Arbeitsverträgen nur noch zulässig ist, wenn sie drittmittelfinanziert ist oder aber der wissenschaftlichen Qualifizierung dienen soll. Immerhin etwas. Doch was genau unter »Qualifizierung« zu verstehen ist, verbarg die Regierung im Nebelschleier ihrer berüchtigten Beamtensprache, um den Hochschulen damit größtmögliche Flexibilität zu geben.
In einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion im Bundestag vom März 2017 stellte die Regierung klar, dass sie unter wissenschaftlicher Qualifizierung nicht eine formale Qualifikation wie Promotion oder Habilitation versteht, sondern den »Erwerb wissenschaftlicher Kompetenzen«. Darüber hinaus könnten »auch sinnvolle Teilabschnitte gebildet werden, solange die angestrebte Qualifizierung im Rahmen der vereinbarten Befristungsdauer sinnvoll betrieben werden kann«. Die die Regierung meint, dass im wissenschaftlichen Betrieb jede Arbeitsstelle weiterhin befristet sein darf, wenn festgelegt ist, welche wissenschaftsbezogenen Kompetenzen dabei vermittelt werden. Wenn eine Institution entscheiden darf, was sich hinter Begriffen wie Qualifizierung, Kompetenzen, sinnvoll und angemessen verbirgt, wird die freundliche Einladung selbstverständlich gerne angenommen und eine beachtliche Kreativität in dieser Angelegenheit freigesetzt. So haben sich die Hochschulen ganz neue Kataloge mit Qualifikationszielen ausgedacht. Bei der TU Berlin beispielsweise gilt der unermessliche Kompetenzerwerb beim Verfassen eines Drittmittelantrages bereits als wissenschaftliche Qualifizierung. Bei anderen sind es einfache managementbezogene Tätigkeiten. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz beseitigt in dem Maß die prekäre Beschäftigung an den Hochschulen, wie die Mietpreisbremse den Anstieg der Wohn kosten in den Innenstädten verhindert.
Das Befristungsunwesen ist politisch gewollt. Es ist Teil einer Strategie, die Hochschulen und Universitäten in Unternehmen verwandelte und an den Interessen der privaten Wirtschaft ausrichtete. Es wuchs im Gleichschritt mit dem Rückgang der öffentlichen Ausgaben pro Studierenden, bei gleichzeitig gestiegener Bedeutung der Drittmittelfinanzierung der Hochschulen. Von den drittmittelfinanzierten Stellen sind 98 Prozent befristet. Im Zeitraum von 1995 bis 2014 ist das Aufkommen von Drittmitteln an den Hochschulen auf mehr als das Dreieinhalbfache gestiegen, während die Grundmittel um gerade einmal 53 Prozent wuchsen. Wenn immer mehr Menschen studieren, die Grundfinanzierung aber stagniert, sind die Hochschulen darauf angewiesen sich neue Quellen der Finanzierung zu sichern.
Das hat weitreichende Folgen. Über Stiftungslehrstühle, Sponsoring Aktivitäten und Forschungsprojekte nimmt die private Wirtschaft mittlerweile umfassenden direkten Einfluss auf die Forschungsaktivitäten an der Hochschule. Wer erst der Autolobby die Zufahrt auf den Campus pflastert, braucht dann öffentlich keine Krokodilstränen zu weinen, wenn an der Universität Aachen Stickoxidtests an Menschen durchgeführt werden. Ja, so zynisch ist das Wissenschaftssystem, denn irgendwo muss das Geld schließlich herkommen.
Aber auch die öffentlichen Drittmittel sind nicht automatisch die besseren, denn sie rücken insbesondere Fragestellungen des wissenschaftlichen Mainstreams in den Vordergrund, beispielsweise in den Natur- und Technikwissenschaften. Namentlich die Sozial- und Kulturwissenschaften leiden an der Unterfinanzierung. Das besonders fleißige Eintreiben von Drittmitteln wird mit der Exzellenzinitiative noch einmal belohnt. In den Büros, in denen Wissenschaftler früher an umweltschonenden Konzepten für neue Mobilität forschten, schreiben sie heute Finanzierungsbitten an den VW-Konzern.
Die Antworten der Bundesregierung auf die Initiativen der Linksfraktion zeigen, dass offensichtlich wenig Interesse besteht, das Wissenschaftssystem endlich auszufinanzieren. Wie sollte es auch? Wer die Hochschulen in den verlängerten Arm der Wirtschaft umstrukturieren möchte, braucht keine engagierten kritischen Wissenschaftler, die in gesellschaftlicher Verantwortung ihrer Berufung nachgehen, und das noch dazu unter guten Arbeitsbedingungen. Deshalb führte auch im Fall von Sarah bisher kein Weg zu einer dauerhaften Stelle im Bereich Theaterwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität in Nürnberg.
Als mein Gespräch mit Sarah sich dem Ende zuneigte, betrat mein Freund Jasper die Kneipe. Er war ganz aufgekratzt, denn er kam gerade von einer Streikkundgebung der studentischen Beschäftigten an den Berliner Hochschulen. Jasper arbeitet als studentischer Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Humboldt Universität. Auch er fühlt sich gehetzt. Auch er hat guten Grund, wütend zu sein wie die übrigen studentischen Beschäftigten ebenfalls. Seit 2001, also seit nunmehr 17 Jahren, wurde ihr Gehalt nicht mehr erhöht. Trotz Inflation und gestiegener Lebenserhaltungskosten boten ihnen die Berliner Hochschulen eine Lohnerhöhung um lächerliche 26 Cent an.
Auch die studentischen Beschäftigten halten die Hochschule am Laufen. Sie übernehmen Aufgaben in der Verwaltung, helfen bei der Forschung und führen Tutorien durch. An der Streikkundgebung nahmen über 2000 studentische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie solidarische Studierende teil. Sarah wurde immer neugieriger: »Wie habt ihr so viele Menschen auf die Straßen bekommen?« Jasper erzählte von den vielen kleineren Aktionen, von Streikcafés und Diskussionen in der letzten Wochen. Selten sei ein Thema politisch so auf dem Campus präsent gewesen.
Die aktuellen Streikwochen sind das Ergebnis von lange organisierten politischen Aktivitäten. Allein im letzten Jahr gewannen die Gewerkschaften GEW und ver.di über 900 neu organisierte Beschäftigte. Da trägt jahrelange Arbeit ihre Früchte. Während die Berliner CDU dazu aufrief, den Streik sofort zu beenden, legten die studentischen Beschäftigtem ein paar Zahnräder des Hochschulbetrieb still und das bei wachsender Solidarität. Sarah meinte, dass sie immer über politische Organisierung nachgedachte hatte, dass sich aber dafür keine Zeit fand. »Vielleicht«, fragte sie sich selbst, »ist das ein Teil des Problems?«
* Der Name wurde verändert.
Robert Blättermann hat an der Berliner Humboldt Universität Deutsche Literatur studiert.
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