Die Nacht des Sieges
Nach dem 3:1 über Ägypten feiern die Russen eine rauschende Party in St. Petersburg
Wie in der Nacht zum Mittwoch feiern sie nicht alle Tage in St. Petersburg: Über den achtspurigen Newski-Prospekt bretterten die Menschen in ihren Autos und ließen die russische Trikolore aus den Fenstern flattern - dauerhupend, grölend, freudetrunken. Staus auf den Nebenstraßen, Gewimmel auf den Bürgersteigen. Zu Tausenden liefen sie die Prachtmeile entlang, erklommen Fahnenmasten, ließen Knaller krachen und Feuerwerksraketen in den mattblauen Nachthimmel steigen. Vier Kilometer lang ist der Prospekt von der Admiralität bis zum Moskauer Bahnhof. Dienstagnacht herrschte dort Ausnahmezustand. Aus den »Weißen Nächten« wurden weiß-rot-blaue.
Ein unverhoffter 3:1-Sieg über Ägypten hatte die Zarenstädter in Ekstase versetzt - Besucher aus Deutschland erinnerten sich an Dortmund 2006 nach dem 1:0 gegen Polen. Alle anderen Touristen, von denen Zehntausende zwar auch nicht wegen der »Bjelije Notschi« gekommen sind, sondern wegen der Fußball-WM, ließen sich gerne mitreißen. Sie zogen sich etwas Wärmendes über ihre Brasilien-, Peru- oder Iran-Trikots und feierten bei windigen elf Grad. All jene, die beim russischen Sieg im Zenit-Stadion auf der Krestowskij-Insel dabei waren, versuchten derweil, zurück in die Innenstadt zu kommen. Beeilung war angesagt: Ab halb zwei werden die wichtigsten Brücken hochgeklappt, um die riesigen Kreuzfahrtschiffe einzulassen.
Die 64 468 Zuschauer im Stadion hatten allerdings schon im Stadion ihre erste Party erlebt, eine, von der sie womöglich ihren Kindern und Enkeln erzählen werden: der Abend, an dem sich die russische Fußballauswahl vom bemitleideten Außenseiter zur unberechenbaren Größe beim heimischen WM-Turnier mauserte. Zwei Siege brauchte es dafür nur, ein 5:0 gegen Saudi-Arabien und eben jenes 3:1 gegen Ägypten, das damit so gut wie ausgeschieden war.
Abgesehen von den zwei Siegen ist für viele Russen diese WM bereits jetzt eine Offenbarung, gerade weil in den Straßen eine Gelassenheit herrscht, wie sie im harschen russischen Alltag sonst kaum zu erleben ist. Die Polizisten halten sich merklich zurück, statt demonstrativ Präsenz zu zeigen. Passanten versuchen geduldig, den »Innostranzij« (Ausländern) den Weg zur nächsten Metro zu erklären. Dass sie dabei sogar lächeln können, verblüfft die Mitbürger in Moskau, St. Petersburg oder Kasan am meisten.
Ob die WM 2018 für Russland nun gar zum Sommermärchen wird, wie es 2006 den Deutschen passierte, ist ungewiss. Die kritischeren Geister wagen anzumelden, dass den Fans eben jene Rechte zugestanden werden, die die Russen eigentlich selbst gern hätten. Polizisten, die sich zurückhalten. Versammlungsfreiheit an allen Plätzen. Das Bier im Nachtzug nicht im Bordrestaurant trinken müssen, sondern im eigenen Abteil - all das wird in den sozialen Netzwerken bestaunt.
Die russischen Zeitungen, die die Sbornaja bereits vor Turnierbeginn abgeschrieben hatten, konzentrieren sich nun auf die Mannschaft und baten am Mittwoch nochmals einhellig um Vergebung: »Wir haben nicht an das Team geglaubt, jetzt schenkt es uns viel Freude. Wohin auch die Reise führt, ob es nach dem Achtelfinale zu Ende sein wird oder noch weiter geht - wir müssen uns bei diesem Team entschuldigen«, lautete das Mea culpa des »Sport-Ekspress«. »Sowjetski Sport« schwärmt: »Wir fliegen über das Spielfeld. Ganz egal, was kommt, wir werden uns immer an diese Tage erinnern.«
Dabei hatte es bei den Russen zumindest eine Halbzeit lang gar nicht so sehr nach Fliegen ausgesehen. Die Abwehrreihe hatte so ihre Mühe mit den Nordafrikanern. Deren Star Mo Salah vom FC Liverpool gab nach seinem verletzungsbedingten Aus im Champions-League-Finale nun sein Comeback. Er war augenscheinlich noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte, aber das ein oder andere Zuspiel seiner Kollegen wusste er schon in Torgefahr umzusetzen, am eindringlichsten kurz vor dem Seitenwechsel nach Pass von Trezeguet. Annahme, Drehung, Schuss: Knapp strich der Ball an Igor Akinfejews Gehäuse vorbei.
Sicher wäre dieser denkwürdige Abend anders verlaufen, hätte Salah getroffen. Stattdessen verhalfen die Vizeafrikameister von 2017 der Sbornaja auf den Pfad des Sieges: Kapitän Ahmed Fahti fälschte einen Schuss von Roman Sobnin so unglücklich ab, dass Ägyptens Torhüter Mohamed El-Shenawi nur zusehen konnte, wie der Ball zum 1:0 im Netz landete. Die Fans im Stadion waren aus dem Häuschen, die Sbornaja erwacht. Denis Tscheryschew (59.) und Artjom Dsjuba (62.) besorgten umgehend die nächsten Treffer. 3:0, die Partie war scheinbar entschieden, als es Mo Salah gelang, sich im Strafraum vom Gegner zu Fall bringen zu lassen. Salah traf beim folgenden Elfmeter selbst zum 1:3.
Mehrere tausend Ägypter im Stadion schöpften noch einmal Hoffnung. Doch mehr als ein leichtes Aufbäumen gelang ihrem Team nicht. Die Russen spielten sich locker die Bälle zu und hielten die Gegner mit eigenen Angriffen ausreichend auf Trab. Am Ende stand Russlands zweiter Sieg, das Achtelfinale ist so gut wie sicher. Und der ursprünglich nicht einmal für die Stammelf erwählte Denis Tscheryschew stand kurz neben Ronaldo an der Spitze der Torjägerliste.
Trainer Stanislaw Tschertschessow erfreute das alles so sehr, dass er Lust hatte, die Fantasie seiner Landsleute noch zu beflügeln. Einen Reporter, der ihn fragte, ob denn dieser Tag des Sieges auch der schönste Tag in seinem Leben gewesen sei, ließ er wissen: »Nun, ich hoffe, es kommen noch ein paar schöne dazu!« Ägyptens Trainer Hector Cuper, ein ehemaliger Weltklassespieler aus Argentinien, vermied indes eine direkte Antwort auf die Frage, ob die Russen nun zum großen Siegeszug ansetzen würden: »Sie sind schon stark, sie arbeiten viel, sie laufen viel.« Irgendwelche Vorhersagen wolle er aber nicht treffen.
Die ägyptischen Fans in St. Petersburg, die sich von ihrem Team bei dessen ersten Endrundenauftritt seit 1990 sicherlich mehr erhofft hatten, reagierten auf das Quasi-Ausscheiden pragmatisch: Sie stiegen in die Metro und Trolleybusse und fuhren zum Newski-Prospekt, wo sie gemeinsam mit den Petersburgern die Weiße Nacht zum Tag machten.
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