Realitätsferne Bemessung der Zinshöhe für Steuernachzahler
Urteil des Bundesfinanzgerichts
Die Zinsen für Steuernachzahlungen sind zu hoch. Zu dieser Auffassung kommt jetzt das höchste deutsche Finanzgericht, der Bundesfinanzhof (BFH) in München (Az. IX B 21/18). Die Richter finden deutliche Worte und sprechen von einer »realitätsfernen Bemessung der Zinshöhe«. Aktuell berechnet das Finanzamt bei Nachzahlungen 0,5 Prozent Zinsen pro Monat, also 6 Prozent im Jahr. Steuerzahler, die jetzt diese Zinsen zahlen mussten, sollten aktiv werden.
Der BFH setzte den Vollzug der Zinsforderung aus. Bei einer ersten, überschlägigen Prüfung kamen die Richter des 9. Senats zur Auffassung, der Zinssatz von monatlich 0,5 Prozent der Steuerschuld sei »realitätsfern« und verstoße gegen das Grundgesetz. Sollten die Richter auch im Hauptsacheverfahren bei ihrer Auffassung bleiben, müsste der Große Senat des BFH entscheiden. Denn der 3. Senat des BFH hatte im November 2017 in einem anderen Fall die Nachforderungszinsen als verfassungsgemäß beurteilt. Wenn der Große Senat des BFH die Zinsen für verfassungswidrig halten würde, müsste er die Frage dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Denn allein das darf entscheiden, was verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist.
Was muss die Bundesregierung nun tun?
Der 9. Senat kritisierte, dass der Gesetzgeber den Zinssatz seit 1961 unverändert gelassen habe, obwohl die Europäische Zentralbank schon lange für Niedrigzinsen sorgt. Aber beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe liegen bereits Verfassungsbeschwerden zur Entscheidung vor, bei denen es auch um diese Zinsen geht. Hier wird wahrscheinlich noch in diesem Jahr eine Entscheidung fallen.
Was heißt das für Steuerzahler?
Am besten ist es, Einspruch einzulegen, wenn man einen Steuerbescheid mit Nachzahlungszinsen erhält. Dabei sollten Steuerzahler gleich auf die relevanten Verfahren vor dem Bundesfinanzhof (Az. IX B 21/18) und dem Bundesverfassungsgericht (Az. 1 BvR 2237/14 und Az. 1 BvR 2422/17) hinweisen. Aber man muss die Zinsen erst einmal zahlen, hat dann aber eine Chance, sie zurückerstattet zu bekommen. Wer schon gezahlt habe, ohne Einspruch einzulegen, hat wenig Aussichten auf Rückerstattung. dpa/nd
Steuerexperten wundern sich schon seit einigen Jahren: Auf der einen Seite sind wir mit einem historisch niedrigen Zinsniveau konfrontiert, auf der anderen Seite berechnet das Finanzamt bei Steuernachzahlungen immer noch sechs Prozent Zinsen pro Jahr.
Diese Praxis hat der BFH jetzt gestoppt: »Der gesetzlich festgelegte Zinssatz überschreite den angemessenen Rahmen der wirtschaftlichen Realität erheblich, da sich im Streitzeitraum ein niedriges Marktzinsniveau strukturell und nachhaltig verfestigt habe«, heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts. Die Richter bezogen sich dabei insbesondere auf die Steuerjahre 2015 bis heute.
Der Zinssatz ist in der Abgabenordnung (AO) festgeschrieben und zwar in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO. Die Richter des BFH fordern den Gesetzgeber nun auf, den Zinssatz anzupassen.
Wer muss eigentlich Zinsen zahlen?
»Der Zinslauf beginnt 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist«, so schreibt es die Abgabenordnung vor. Das heißt zum Beispiel: Wer für das Steuerjahr 2015 noch Steuern nachzahlen muss, der muss aktuell Zinsen für die Zeit von April 2017 bis April 2018, also für 13 Monate zahlen - 0,5 Prozent für jeden vollen Monat. Beträgt die Steuernachzahlung aus 2015 zum Beispiel 2000 Euro wären zusätzlich zu diesem Betrag noch Zinsen von 6,5 Prozent fällig also 130 Euro.
Wann genau diese Zinsberechnung korrigiert werden wird, ist nicht bekannt. Denn es ist noch ein Verfahren beim Bundesverfassungsgericht (Az. 1 BvR 2237/14 und Az. 1 BvR 2422/17) anhängig.
Interessant ist aber auch diese Frage: Werden die Zinsen dann auch für Erstattungen nach unten korrigiert? Denn der vom BFH verworfene Zinssatz betrifft eigentlich Nachzahlungen und Erstattungen, im Urteil ging es jedoch nur um Nachzahlungen.
Müssen betroffene Steuerzahler jetzt handeln?
Grundsätzlich gilt: Wer Zinsen zahlen musste, sollte alle Steuerbescheide ab 2015 prüfen und die weitere Entwicklung genau beobachten. Eventuell werden die Zinsen rückwirkend korrigiert, da sich das Urteil auf 2015 bezieht.
Ist die Einspruchsfrist von einem Monat noch nicht abgelaufen, sollten Betroffene gegen die Zinsfestsetzung Einspruch einlegen.
Mit einer weiteren Eigenwilligkeit bei der Zinserhebung hat sich aber auch der BFH nicht befasst. Erstattungszinsen müssen voll versteuert werden. Umgekehrt können Zinsen auf Steuernachzahlungen nicht als negative Kapitalerträge steuerlich geltend gemacht werden.
Der Autor leitet die Beratungsstelle Berlin der Lohnsteuerhilfe für Arbeitnehmer e. V., Lohnsteuerhilfeverein mit Sitz in Gladbeck.
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